Gute Frage

Jetzt kommt er noch einmal in die Hauptstadt. Schon einmal wurde er in Frage gestellt für das, was er sagt und tut und von seinen Gegnern vorgeführt. Was wird diesmal passieren? Am vergangenen Montag ist der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wieder zu einem Ukraine-Gipfel nach Washington gereist. Diesmal nicht allein, sondern mit anderen führenden europäischen Politikerinnen und Politikern. Vielleicht hat das verhindert, dass dieser Besuch so eskalierte wie der im Februar. Dumme Bemerkungen über seine Kleidung musste Selenskyj sich trotzdem anhören. Es war ein Treffen, das ich mit angehaltenem Atem verfolgt habe. Wie das eben ist, wenn die Atmosphäre von vorherein feindselig ist. Wenn die Gefahr besteht, dass man aneinandergerät. Wenn die ganze Situation eskalieren könnte. Wer sieht schon gerne anderen dabei zu, wie sie miteinander streiten?

Angespannte Atmosphären, feindselige Stimmungen, die Gefahr, dass es eskaliert. Es ist schon schlimm genug, wenn man dabei zusehen muss. Es ist noch schlimmer, wenn man selbst dabei ist. Und sich das ganze nicht im fernen Washington zwischen mir persönlich nicht bekannten Menschen abspielt, sondern in zuhause, in der Küche, bei der Familienfeier, auf dem Büroflur. Krieg oder Frieden, das ist eine große, weltpolitische Frage. Und eine kleine, alltägliche. Die Mutter mit dem Vater, die Schwester mit dem Bruder, die Kollegen untereinander. Wer sieht schon gerne anderen dabei zu, wie sie miteinander streiten?

Einer hat dabei zugesehen, wie sie miteinander streiten. Jesus ist in die Hauptstadt gekommen, nach Jerusalem, und die Atmosphäre ist von vornherein feindselig. Jesus wird schon einige Zeit lang in Frage gestellt für das, was er sagt und tut, für seinen Anspruch, dass er den Willen Gottes für die Menschen kennt. Er hat Gegner. Sie sandten zu ihm einige, dass sie ihn fingen in seinen Worten (Mk 12,13). Sie haben Jesus Fangfragen gestellt. Solche Fragen, die man nur stellt, damit man eine Antwort bekommt, über die man sich gleich wieder empören kann. Weil es keine richtigen Antworten geben darf. Denn jede Antwort ist falsch, wenn die Frage nicht echt ist. Sondern nur dazu da, um den anderen vorzuführen. Das passiert, wenn die großen, weltpolitischen Fragen gestellt werden. Und das passiert auch bei kleinen, alltäglichen Fragen. Man stellt sie nicht, weil man sich verständigen will. Sondern nur, damit noch einmal deutlich wird, wie weit man auseinander ist.

Jesus bekommt in Jerusalem die Art von Fragen gestellt, die man in Gesprächen besser vermeidet, wenn man nicht aneinandergeraten will. Zuerst geht es um Geld und um Politik. Sie fragen Jesus, ob man dem Kaiser Steuern zahlen soll, ob man sich seinem Herrschaftsanspruch beugen soll oder nicht. Und dann geht es um Religion. Sie fragen ihn, wie das ist mit der Auferstehung, wie das sein wird, nach dem Tod, ob dann noch die Verhältnisse gelten, die wir aus dem Leben kennen. Geld, Politik, Religion – es wäre besser gewesen, Jesus hätte dazu nichts gesagt. Denn seine Antworten werden nur gegen ihn verwendet.

Einer steht dabei und hört zu, wie sie miteinander streiten, Jesus und seine Gegner. Aus den Antworten, die Jesus gibt, weht etwas heraus. Es ist, wie wenn einer ein Fenster aufmacht in einem stickigen Konferenzraum, wo sich aller Sauerstoff in hitzigen Debatten längst verbraucht hat. Aus den Antworten Jesu zu den Fragen nach Geld und Politik und Religion wehen Freiheit und Leben heraus. Wer euch gerade regiert, ist doch egal. Es geht um eure innere Freiheit, sagt Jesus. Und fragt doch nicht so viel danach, was nach dem Tod ist. Fragt euch lieber, was im Leben ist. Freiheit und Leben, darum geht es, wenn ihr mich fragt, sagt Jesus. Und das atmet dieser eine tief ein und stellt noch eine dritte Frage. Und das ist eine gute.

Und einer der Schriftgelehrten, der gehört hatte, wie sie miteinander stritten, trat zu ihm. Und da er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches Gebot ist das erste von allen? Jesus antwortete: Das erste ist: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist allein Herr, und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Verstand und mit all deiner Kraft. Das zweite ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Es ist kein anderes Gebot größer als diese. (Mk 12, 28-31, Zürcher Bibel)

Welches ist das höchste Gebot von allen? Eine gute Frage, in mehrfacher Hinsicht. Diese Frage ist gut, weil sie einen größeren Raum öffnet, auf, weg von allem Klein-Klein, über das man sich trefflich streiten kann. Was ist das Wichtigste, worauf kommt es an? Jesus und der Schriftgelehrte kennen natürlich die Zehn Gebote. Man kann sie sich eigentlich an den Fingern abzählen. Aber wenn das immer noch zu aufwendig sein sollte oder zu anspruchsvoll, dann kann man es auch noch weiter zusammenfassen: Gott lieben und den Nächsten lieben. Das ist das Wichtigste. Und alles andere muss sich daran orientieren.

Diese Frage ist auch deswegen gut, weil sie auf das zielt, worauf die beiden sich einigen können. Bei allen guten Fragen geht es darum, ob man sich verständigen kann. Nicht darum, die Unterschiede zu betonen. Gute Fragen sind wie Brücken, auf denen mir die andere, der andere entgegenkommen kann: Das ist uns wichtig, oder? Darin sind wir uns einig, oder? So fragt man sich aufeinander zu und nicht voneinander weg. Wenn ich zusehen muss, wie andere miteinander streiten, in den großen, weltpolitischen genauso wie in den kleinen, alltäglichen Fragen, dann wünsche ich mir viel mehr von den guten Fragen.

Aus den Antworten Jesu wehen Freiheit und Leben. Das hat der Schriftgelehrte gespürt. Und es bestätigt sich darin, wie Jesus die Zehn Gebote zusammenfasst. Die sind in der Welt, seit das Volk Israel sie am Berg Sinai bekommen hat. Ihr Gott hat das Volk Israel in die Freiheit geführt und es am Leben gehalten in der Wüste, Tag für Tag. Dieser Gott sagt zu seinem Volk: Diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen (Dtn 6,6).

Jesus ist überzeugt: Mit den Geboten vom Sinai kommen Freiheit und Leben in die Welt. Und Jesus sagt: Wenn ihr euch aus welchen Gründen auch immer diese zehn Gebote nicht merken könnt, dann merkt euch dieses eine, doppelte: Gott lieben und den Nächsten lieben. Das ist das höchste Gebot von allen. Das ist das Wichtigste. Darauf kann man sich verständigen. Deswegen betont Jesus das auch noch einmal, dass man Gott lieben soll mit seinem ganzen Herzen und mit seiner ganzen Seele und mit seinem ganzen Verstand und mit all seiner Kraft. Denn das Wort „verständigen“ hat auch etwas mit Verstand zu tun.

Ich kann die Welt gerade nicht mehr verstehen, bei allem, was gerade passiert in Washington und in der Ukraine, die heute, am 24. August den Tag ihrer Unabhängigkeit feiert. Und vor allem angesichts dessen, was gerade passiert in Israel und in Gaza. Es geht mir ans Herz, an die Seele, an den Verstand und an die Kraft, wenn ich dabeistehen muss und bloß dabeistehen kann und zusehen, wie sie miteinander streiten. Es geht um Freiheit und Leben, für alle Menschen. Das ist das höchste Gebot von allen. Und würden wir es schaffen, uns diese eine, doppelte Gebot der Liebe zu Herzen zu nehmen, in Washington, in der Ukraine, in Israel und Gaza und auch bei uns zuhause und bei der Arbeit, diese Welt wäre eine andere. Und wir nicht so fern vom Reich Gottes.

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