Leben oder liegen

„Wo sind die Jahre bloß geblieben?“ Das ist die Frage des Tages. Sie, liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden, werden sich diese Frage heute bestimmt mehrmals stellen, ausgesprochen oder unausgesprochen. Wo sind sie geblieben, die Jahre? Zu sehen sind sie natürlich immer nur in den Gesichtern der anderen, niemals im eigenen. Aber wo sind die Jahre geblieben seit Ihrer Einsegnung, hier in der Thomaskirche oder an einem anderen Ort, zu einer ganz anderen Zeit, sogar in einem anderen Land, in dem es irgendwann nicht mehr selbstverständlich war, sich konfirmieren zu lassen? In dem dann die meisten Ihrer Klassenkameradinnen und -kameraden zur Jugendweihe gingen und ein Buch mit dem Titel „Weltall-Erde-Mensch“ oder „Der Sozialismus, deine Welt“ überreicht bekamen. Der Sozialismus ist nun auch schon über dreißig Jahre nicht mehr unsere Welt. Und in diesen Jahren, von denen wir uns bei solchen Anlässen wie heute stets fragen, wo sie geblieben sind, da war Ihr Leben. Damals saßen Sie in der Kirchenbank, wie man da eben sitzt, wenn man 14 oder 15 ist, mit höchst ungenauen Vorstellungen vom Leben, besonders vom eigenen. Und heute sitzen Sie wieder in einer Kirchenbank, mit den schönen und den schweren Erfahrungen eines schon gelebten Lebens. Wo sind die Jahre bloß geblieben?

Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm deine Matte und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm seine Matte und ging hin. Es war aber Sabbat an dem Tag. (Joh 5, 1-9)

Wo sind die Jahre bloß geblieben? Das fragt sich auch dieser Mensch am Teich Betesda beim Schaftor in Jerusalem. Seit 38 Jahren liegt er dort auf seiner Matte, ein ganzes Leben lang. Er weiß vielleicht noch, wie er dahin gekommen ist, an diesen Ort, der Heilung und Leben verspricht. Denn das war am Anfang sein Plan gewesen, die eine, vielleicht seine letzte Möglichkeit: Hierher kommen und in das Wasser steigen, wenn es sich bewegt. Wieder gesund werden und dann sein Leben als gesunder Mensch in der üblichen Weise fortsetzen.

Das hat nicht funktioniert. Denn an diesem Ort der Heilung, im „Haus der Gnade“, wie die Säulenhalle am Teich übersetzt heißt, geht es erstaunlich gnadenlos zu. Wer zuerst kommt, wird gesund. Wer zu spät kommt, den bestraft wer oder was auch immer mit einer weiteren Runde Liegen auf der Matte. Denn dies hier ist kein Kuraufenthalt, wo alle zumindest ein wenig Zuwendung und Linderung erfahren. Dies hier ist eigentlich genau die Welt, wie sie ist. Die Kranken, Blinden, Lahmen und Ausgezehrten schön unter sich, auf fünf Hallen verteilt und den Gesunden und Leistungsfähigen damit aus den Augen und dem Sinn. Und unter denen, die sowieso nicht mehr viel können, gibt es auch noch einen erbarmungslosen Wettbewerb um die seltene Chance, doch noch von hier wegzukommen. Keine heile Welt, sondern eine kranke.

Und so ist es gekommen, dass sich dieser Mensch irgendwann in dieser kranken Welt eingerichtet hat, in der das Leben ein Liegen ist. Was schätzt ihr, wie viele Jahre lang hat das ihn überhaupt noch bewegt, wenn sich das Wasser bewegte? In seinen völlig untrainierten Bauchmuskeln zieht es von Anfang an. Aber da war wenigstens noch eine Art von Schmerz. Wann hat es angefangen, dass er sich gar nicht mehr aufrappelte? Wie lange hat er es noch versucht? Von Zeit zu Zeit bloß bewegt sich das Wasser, nichts, womit man fest rechnen kann. Ein Jahr lang, vielleicht zwei? Und den Rest der Zeit, was hat der Mensch da gemacht? Wo sind sie geblieben, die Tage und Monate und Jahre, aus denen ein Leben ist?

Mit diesem Menschen auf seiner Matte teile ich eine Lebenserfahrung: Die Bereitschaft, sich zu bewegen, wird nicht unbedingt größer im Lauf des Lebens. Und es heißt noch lange nicht, dass ich mich auch bewegen werde, wenn sich vor meinen Augen etwas bewegt. Wenn das Leben von still oder medium überraschenderweise doch zu spritzig wechseln möchte. Bis ich so weit bin, ist es möglicherweise schon wieder vorbei. Und so kann Liegen zum Leben werden.

Sie, liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden haben in Ihrem Leben eine große Bewegung erlebt, ein Aufwallen, mit dem niemand gerechnet hat. Zur Zeit der Friedlichen Revolution, der sogenannten Wende, hatten die meisten von Ihnen Ihr Leben längst in der üblichen Weise gelebt, Ausbildung oder Studium absolviert, vielleicht eine Familie gegründet. Und dann bewegte sich auf einmal alles. Die politischen wie die persönlichen Verhältnisse änderten sich grundlegend. Sie haben erfahren, dass das Politische tatsächlich auch privat ist. Es hat Ihnen neue Lebensmöglichkeiten eröffnet, Sie aber auch vor Herausforderungen gestellt. Ich denke besonders an diejenigen von Ihnen, die die Goldene Konfirmation feiern: Wie ist das gewesen, wenn man 1989 schon Ende zwanzig war, ein ganz kleines bisschen zu alt, um nochmal problemlos von vorne anzufangen? Und war da manchmal angesichts all dieser Bewegung auch die Sehnsucht nach der Matte?

Leben oder liegen, diese Frage stellt das Leben uns allen. Manchmal kann man ihr ausweichen und manchmal nicht. Zum Beispiel, wenn Jesus kommt und einen direkt fragt: Willst du gesund werden? Dann fängt man an zu stammeln, wie der Mensch auf seiner Matte am Teich. Denn Gründe, warum es gerade nicht geht, gibt es immer genug. Immer kann etwas oder jemand vor mir da sein, bei der Arbeit, in der Beziehung, im Leben. Immer auf die anderen gucken, die vor dir reinkommen, die vor dir drankommen, die es hinkriegen, das kann man sehr bequem von einer Matte aus. Dieser Mensch lag am Teich Betesda, am Schaftor im Jerusalem, bei den fünf Hallen und hat sich komplett eingefügt in dieses Ensemble. Ungefähr noch so beweglich wie eine der steinernen Säulen der Halle. Aber das ist keine heile Welt, sondern eine kranke.

Wo sind die Jahre bloß geblieben? Wenn es nach Jesus geht, dann soll sich kein Mensch das fragen müssen. Jesus will, dass wir gesund werden und leben statt liegen. Es ist zu sehen, was aus der Welt wird, wenn alle meinen, sich nicht mehr bewegen zu können oder zu müssen. Gerade am Beispiel unseres eigenen Landes, besonders an dem, was in diesem Land geschehen ist seit dem großen Aufwallen, seit der großen Bewegung. Die einen, die im Westen Deutschlands, die haben sich zum größeren Teil überhaupt nicht bewegt. Die lagen die ganze Zeit auf ihren sehr bequemen Matten und schauten zu, wie der Osten in Bewegung geriet. Sie sahen dem Rennen nach Lebensmöglichkeiten und Chancen zu. Sie sahen sich die großen Hallen an, wo die hingeschickt wurden, die nicht mehr gebraucht wurden, als wären sie nicht leistungsfähig. Sie bleiben bis heute gerne in ihrer bequemen, beobachtenden und manchmal beurteilenden Position.

Aber auch im Osten Deutschlands hat sich in und besonders nach den bewegten Jahren das Liegen wieder verbreitet. Die Sehnsucht ist mancherorts groß nach der zwar etwas dünnen, aber doch bequemen Matte in der Welt des Sozialismus, in der sich ein Leben in der üblichen Weise gut leben ließ. Und es nur für die sehr unbequem wurde, die etwas mit Jesus zu tun hatten. Oder allgemein mehr Lust auf Leben als auf Liegen.

36 Jahre ist das jetzt her, seit dem großen Aufwallen. Wo sind diese Jahre eigentlich geblieben? Wir sind nur noch zwei von den 38 Jahren entfernt, die dieser Mensch am Teich Betesda im Liegen verbracht hat. 38 Jahre hat es übrigens auch gedauert, bis das Volk Israel nach dem Auszug aus der Sklaverei in Ägypten das Gelobte Land erreicht hat. Eigentlich waren sie schon nach zwei Jahren so gut wie angekommen. Aber der Weg bis dahin war voller Murren des ganzen Volkes über die Zumutungen des Unterwegsseins gewesen und vor allem voller Sehnsucht nach den bequemen Fleischtöpfen Ägyptens. Schon gleich nach der Befreiung verklärten sie ihre Sklaverei. Frei waren sie nicht gewesen, aber sicher, so schön sicher.

Deswegen mussten sie alle zusammen einen Umweg von 38 Jahren gehen, bis sie endlich da waren, wo sie hinwollten. Sie mussten sich 38 Jahre lang bewegen, damit sie das Liegen ein für alle Mal verlernten.

Eine Aufgabe nicht nur für das Volk Israel, sondern auch für unser Volk. Von dem ich manchmal auch nicht mehr so recht weiß, ob es eigentlich gesund werden will. Und sich bewegen, anstatt es sich im Westen wie im Osten auf den jeweiligen Matten bequem zu machen und höchstens noch Kommentare übereinander abzugeben, „die anderen immer“ und so weiter und so fort. Die Welt wird nicht heiler davon, sondern kränker.

Liegen ist kein Leben. Auch wenn man es schon 38 Jahre lang gemacht hat. Steh auf, nimm deine Matte und geh! sagt Jesus. Für die Einwände des Menschen auf seiner Matte am Teich Betesda interessiert er sich wenig bis gar nicht. Und er sorgt auch noch für die Zukunft dieses Menschen vor. Nimm bloß deine Matte mit, dieses durchgelegene alte Ding. Damit du gar nicht erst in Versuchung kommst, dich jemals wieder an diesem Teich hinzulegen. Damit du nicht in diese kranke Welt zurückkehrst.

Der Mensch mit der Matte und auch Jesus selbst werden hinterher ausgerechnet wegen der Matte noch Schwierigkeiten bekommen. Denn der Sabbat, an dem das alles passiert, ist ein Ruhetag. Da darf man nichts tragen. Aber Jesus sagt: Doch, Matten schon. Denn niemand soll sich irgendwann erschreckt fragen müssen, wo die Jahre bloß geblieben sind. Steh auf, nimm deine Matte und geh! Und lebe.

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