Mein Freund, der Baum

Der Baum tut mir leid. Angewurzelt steht er da, angeklagt, keine Frucht gebracht zu haben. Angesprochen wird er nicht. Es wird bloß über ihn geredet. Was ist das mit ihm hier, drei Jahre lang keine Frucht bringen? Keine Frucht von diesem Feigenbaum, der doch als der Inbegriff der Fruchtbarkeit gilt, von dem man fast das ganze Jahr über Feigen zwischen den Blättern finden und etwas ernten kann. Und auch ernten will, denn bloß dastehen und vielleicht ein bisschen Schatten werfen mit den großen Blättern, dazu ist der Weinberg zu eng und der Standort zu schade. Der Baum ist einer, der wegsoll, der wegmuss. E bringt es einfach nicht. Jedenfalls nicht das, was man von ihm erwartet. Und sie sagen es auch: Das bringt doch nichts mehr mit ihm.

Sein Laub zittert unter den Reden, die über ihn geführt werden. Hier glaubt nämlich niemand, mit Bäumen sprechen zu können. Ein Gespräch über diesen Baum wird geführt. Und darin klingt nichts von Verständnis oder Respekt heraus, sondern nur Unverständnis und Verachtung. Schon drei fruchtlose Jahre, allmählich wird’s Zeit, allmählich wird’s eng für den Baum. Die Axt hat der Weingärtner immer am Gürtel, ihre Schneide ist scharf. Und ängstlich krümmt der Baum seine Wurzeln in den Boden.

Dieser Baum ist mein Freund. Steht da, wie ich manchmal dastehe. Wenn ich genau weiß, was ich tun sollte und was von mir erwartet wird und es trotzdem nicht kann. Steht für meine fruchtlosen Bemühungen, für ausbleibenden Erfolg trotz aller Anstrengungen. Und für die Angst, irgendwann könnten alle die Geduld mit mir verlieren, zuerst die Menschen um mich herum und irgendwann auch Gott. Sie kennen ja alle unsere Wurzeln nicht, die zähen, langen, die wir ausgebildet haben in Jahren, um Halt zu finden. Und dann sollen wir plötzlich anders werden, als wir sind, der Baum und ich. Niemand weiß, dass wir schon alle Kraft für die Wurzeln gebraucht haben und für die Blätter, um überhaupt wie ein Baum auszusehen. Und nichts mehr übrig geblieben ist für Früchte. Niemand nimmt an, dass wir auch gerne anders wären, als wir sind, mit mehr Saft und mehr Kraft.

Der Baum ist mein Freund. Aber warum erzählt Jesus so eine unfreundliche Geschichte von ihm? Eine Geschichte von „einmal noch“ und „allerletzter Versuch“, eine Geschichte, über deren Ende schon die Axt in der letzten herbstlichen Sonne blinkt. Es ist schwer, umzukehren, Jesus. Es ist sehr schwer, sein Leben zu ändern, besonders dann, wenn man selbst schon erkannt hat, dass man es müsste. Da sind nämlich all diese zähen Wurzeln und die fehlende Kraft.

Buße, das Wort dieses Tages, das gehört mit Umkehr zusammen wie der Baum mit den Blättern. Aber manchmal stehen wir da, der Baum und ich, und wir wissen doch schon längst, was über uns geredet wird. Es selbst zu wissen, ist die wohl die schwerste Anklage, die es gibt. Und sein Ändern leben, die schwerste Aufgabe.

Und wie wünschte ich dem Baum und mir, es käme dann der aus der Geschichte von Jesus und sagte: Lass es uns noch einmal versuchen. Einer, der nicht mich aufgibt, sondern sich Mühe mit mir. Statt der Axt den Spaten holt und vorsichtig um mich herum auflockert, was hart geworden über die Jahre. Damit die Kraft, die er mitbringt, auch bei mir ankommt.

Lass ihn noch dies Jahr, lass dem Baum und mir bitte noch einmal Frühling und Sommer und Herbst und Winter. Und dann werden wir schon sehen. Vielleicht bringt er doch noch Frucht. Was für ein leichtes Wort für Glauben ist dieses Vielleicht. Viel leichter, als ich dachte.

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