Ich staube ihn nur noch ab. Aber vorsichtig, denn seine Strahlen sind sehr spitz. Aus technischen Gründen muss ich für meinen wesentlich kleineren Herrnhuter Stern bei mir zuhause in jedem Jahr auf die Leiter steigen und die Birne einschrauben, damit er leuchtet. Das tut er auch zuverlässig. Aber wenn man nicht aufpasst, sticht er einen auch. Sogar wenn er nur aus Papier ist. Manche bauen ihren Stern jedes Jahr auseinander und zum 1. Advent dann feierlich wieder zusammen. Das ist mir zu mühsam und zu gefährlich. Und dann wünschte ich, es gäbe diesen Ständer auch in klein, auf man den Stern beim Zusammenbauen setzen kann.
Die Kinder im Internat der Herrnhuter Brüdergemeine hatten vielleicht auch ein zwiespältiges Verhältnis zu diesem Stern, der später so berühmt werden sollte. Die meisten von ihnen mussten Weihnachten ohne ihre Eltern feiern. Die waren in fernen Ländern als Missionare unterwegs, um dort den Menschen die frohe Botschaft von Jesus Christus weiterzusagen. Und schickten ihre Kinder allein in die Heimat zurück, wenn sie schulpflichtig wurden, in die hervorragenden Schulen und Internate, die die Brüdergemeinde unterhielt. Ein Erzieher, um Anschaulichkeit im Mathematikunterricht bemüht, unterrichtete Geometrie mit Hilfe des Sterns. Viereckige und dreieckige Strahlen, die man zu einem Stern zusammensetzen konnte. Die Basis des Sterns ist ein Rhombenkuboktaeder. Die Strahlen sind Pyramiden. Ich war immer sehr schlecht in Mathe. Nur Geometrie ging, aber dass musste ich jetzt auch nachgucken.
Erst rechnen, dann unter Anleitung basteln und die ganze Zeit Heimweh nach den Eltern haben – ich kann mir eine schönere Adventszeit vorstellen. Doch wenn die Sterne dann in Herrnhut in den Gemeinschaftsräumen und Speisesälen hingen, wenn sie über den Kindern leuchteten, dann waren die Formeln vergessen und das mühselige Ausschneiden und Kleben und Zusammensetzen. Dann war da etwas von dem Licht des Sterns über dem Stall von Bethlehem. Da, wo Jesus geboren wurde. Zwar waren seine Eltern dabei anwesend, doch ein richtiges Zuhause war es ja auch nicht. Nur der Schein des Sterns über einer verlassenen Gegend am Rand der Welt.
Nur gottverlassen war sie nicht. Weil es Gott gefallen hat, genau dort zu Welt zu kommen. Es kann deswegen keine gottverlassenen Gegenden der Welt mehr geben. Es ist gut, die Botschaft von Jesus Christus überall hinzubringen. Das war die Überzeugung, die die Eltern der Kinder in Herrnhut dazu gebracht hat, in die Mission zu gehen. Und bei allem, was wir heute und oft zu recht kritisch sehen an den Missionsbewegungen des 18. und 19. Jahrhunderts: Sie hatten etwas damit zu tun, dass die Botschaft von Jesus weitergesagt werden sollte, von Licht und Liebe in einer dunklen Welt. Genau wie bei Paulus, der als erster mit dieser Botschaft unterwegs war, vom Rand des römischen Imperiums bis nach Europa und in die Hauptstadt des Römischen Reichs, nach Rom. Dorthin schrieb er einen Brief, an Menschen, die er gar nicht persönlich kannte und mit denen er sich trotzdem verbunden fühlte. Ein langer Brief mit vielen Seiten voll komplizierter Gedanken. Aber am Ende kommt Paulus bei einer ganz einfachen Botschaft an:
Seid niemandem etwas schuldig, außer dass ihr euch untereinander liebt; denn wer den andern liebt, der hat das Gesetz erfüllt. Denn was da gesagt ist: Du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht töten; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht begehren, und was da sonst an Geboten ist, das wird in diesem Wort zusammengefasst: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag ist nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (Röm 13, 8-10.12)
Spitz wie eine der längeren Pyramiden auf dem Rhombenkuboktaeder des Sterns treffen mich die Worte von Paulus: Seid niemandem etwas schuldig. Das höre ich und denke sofort an alles, was ich schuldig bleibe, anderen, und mir selbst erst recht.
Es ist auch dieses Jahr wieder nichts geworden mit dem entspannten Start in die Zeit, die doch so schön und so besinnlich sein soll. Es ist wie immer bei mir: Alles auf den letzten Pfiff und gar nicht entspannt und mit zu wenig Zeit zum Plätzchen backen oder was man sonst auf einmal alles an Besinnlichem noch zusätzlich machen und haben soll in diesen Tagen, vor allem zusammen mit der Familie. Wenn ich mich solche Gedanken treffen, dann nehme ich mir eine Pyramide von dem Stern ab. Das geht leicht, denn vor genau 100 Jahren wurde in Herrnhut auch noch ein Patent entwickelt, wie die Zacken direkt aneinander befestigt werden können. Das Geheimnis sind die Druckknopfklammern.
Ich nehme mir eine Pyramide, den Strahl eines Sterns und er wird mir zu einer Waffe des Lichts. Und ich lese noch einmal genauer, was Paulus da schreibt. In seinem Brief hatte er direkt vorher über Dinge wie Steuern geschrieben und was man der Obrigkeit schuldig ist. Und ich habe doch gerade diese Woche auch noch so einen unerfreulichen Brief vom Finanzamt bekommen, in dem es genau darum ging, um Steuern. Alles noch obendrauf auf die vielen anderen Sachen, die ich anderen und mir selbst schon schuldig geblieben bin in diesen Tagen.
Und deswegen danke ich Paulus heute besonders für diesen Brief. Denn wörtlich schreibt er: Ihr seid niemandem etwas schuldig, außer, dass ihr einander liebt. Ich erinnere euch noch einmal an die Gebote, die durch Gott in diese Welt gekommen sind. Die Gebote richten sich gegen Untreue, Mord und Totschlag, Raub und Neid. Das sind alles Werke der Finsternis. Und das sind große Worte, von denen wir vielleicht denken, sie beträfen uns gar nicht. Die Werke der Finsternis sind aber nicht nur das, was wir in den Nachrichten sehen. Es gibt sie in verschiedenen Größen, all die kleinen Treulosigkeiten und Unzuverlässigkeiten, das, was tötet und verletzt, was anderen etwas nimmt und ihnen nichts gönnt.
Paulus sagt: Ich erinnere euch an die Waffen des Lichts gegen die Dunkelheiten der Welt und des Lebens. Bleibt treu und zuverlässig. Kommt ohne Gewalt aus. Seid nicht neidisch sein auf das, was andere haben und versucht nicht, es ihnen wegzunehmen. Zusammengesetzt zu einem Ganzen wird daraus die Liebe zum Nächsten. Sie ist das, was wir der Finsternis in der Welt und den dunklen Gedanken in unserem Leben entgegensetzen. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses.
Ginge es um Mathematik, wäre dies der kleinste gemeinsame Nenner. Denn mehr ist es gar nicht. Alle können es verstehen, Rhombenkuboktaeder hin oder her. Diese Liebe gibt es in verschiedenen Größen, von acht Zentimetern bis zwei Meter fünfzig im Durchmesser. wie die Sterne aus Herrnhut. Immer ein Licht, ein Leuchten an den dunklen Abenden der Welt und des Lebens. Ich staube meine Liebe ab. Ich setze meine Liebe zusammen. Ich hänge mir die Liebe ins Fenster und in die dunkelste Ecke des Flurs. Und wir hängen sie in diese Kirche, groß und strahlend. Über uns allen die Liebe, die Waffe des Lichts.

