Angesehen

Eine Predigt zu Lukas 1, 39-56

Angesehen

Predigt zu Lukas 1, 39-56

Ein Engel kommt zu Maria. Er kündigt er ihr an, dass sie ein Kind erwarten wird. Er erzählt ihr auch von Elisabeth. Eine Verwandte von Maria, ihre Cousine. Ihr stilles Schicksal war immer mal wieder Gesprächsthema in der Familie. Elisabeth und Zacharias, nein, da gibt es nichts Neues. Die werden wohl keine Kinder mehr bekommen. Nun sind sie ja auch schon viel zu alt dafür.

Aber der Engel sagt etwas anderes. Er sagt: Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Und er sagt auch: Elisabeth ist schwanger, man sieht es schon, sie ist im sechsten Monat.

Und da ist Maria losgelaufen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Und auch, um nicht immerzu an das andere denken zu müssen, was der Engel gesagt hat. Und an das sie selbst lieber noch nicht so viel denken mochte: Dass auch sie, Maria, ein Kind bekommen würde, Gott weiß, wie. Unmöglich, genauso unmöglich wie bei Elisabeth. Sie ahnt nur, was alles auf sie zukommen wird: Mitleidige Blicke, Getuschel, leises Kopfschütteln. Und dann ist sie bei Elisabeth. Sie sieht ihr ins Gesicht, in das faltige Gesicht einer Großmutter. Und sie sieht Elisabeths Bauch. Das Kind bewegt sich schon, sagt Elisabeth. Unmöglich. Aber nicht bei Gott.

Elisabeth und Maria begegnen sich. Sie sind zwei Frauen, die das Schlimmste kennen. Denn eine kinderlose Frau zu sein, das war das Schlimmste, was einem passieren konnte, damals. Und das andere Schlimmste, was einem passieren konnte, damals, war ein uneheliches Kind zu bekommen. Die eine hatte sie schon hinter sich, ihre Vergangenheit, ein ganzes Leben voller Enttäuschung und Leere. Die andere hat es erst noch vor sich, ihre Zukunft voller Ungewissheit und Fragen.

Aber als sie zusammenkommen, da ist es, als träten all die Frauen aus dem Schatten der Vergangenheit zu ihnen beiden. All diese Frauen aus der Geschichte Gottes mit seinen Menschen. All die Frauen, die auch das Schlimmste kennen, die mitleidigen Blicke, das Getuschel, das leise Kopfschütteln.

Sara ist da, Abrahams Frau. Auch sie hat noch ein Kind bekommen zur Unzeit, nach endlosen Jahren ohne Hoffnung. Hanna ist da, die Mutter des Propheten Samuel, auch sie lange kinderlos, mit ihren Tränen und inständigen Gebeten und dem Gesicht voller Scham und Schmerz. Und Ruth und Naomi sind da, die junge Frau und die alte, nach Israel gekommen als Asylantinnen ohne eine Zukunft und später durch ein Kind eingeschrieben in den Stammbaum des großen Königs David. So geht es zu bei Gott. Unmöglich ist da gar nichts. Das wissen die beiden Frauen, als sie sich begrüßen, die alte und die junge. Elisabeth und Maria.

Und alle diese Frauen sind in dem Lied, das Maria anstimmt nach dieser Begegnung. Sie singt es allein. Aber eigentlich ist es ein Chor. Der Chor der Frauen, die das Schlimmste kennen. Und dieser Chor singt: Unsere Seele erhebt den Herrn, und unser Geist freut sich Gottes, unseres Heilandes. Denn er hat die Niedrigkeit seiner Mägde angesehen. Siehe, von nun an werden uns selig preisen alle Kindeskinder.

Gut, dass Maria dieses Lied singt. Gut, dass wir sie hören können. Denn zu sehen ist sie kaum noch hinter all den Schleiern, die die Zeit um sie gewoben hat. Maria sieht nicht mehr aus wie eine, die das Schlimmste kennt. Wir halten eher Abstand und he-ben ein bisschen den Kopf, um sie sehen zu können. Das Gegenteil von Niedrigkeit. Sie ist ganz abgehoben von den Niederungen des Alltags. Ihr Gesicht bleibt ewig glatt und makellos, sogar noch als sie später ihren toten Sohn im Schoß hält. Selbst ihr Schmerz ist zu einem Kunstwerk geworden, in den Bildern und Figuren von ihr, in der Musik in den vielen Vertonungen des Lieds von Maria, des Magnificats. Aber eigentlich sehen sie anders aus, Maria, und auch Elisabeth.

Elisabeth, die hat einen beigen Mantel an und einen Pullover vom Kleiderstand auf dem Wochenmarkt. Sie hat eine billige Dauerwelle und eine kleine Wohnung, weil für mehr ihre Rente nicht reicht. Elisabeth und ihr Mann sitzen am Abendbrottisch und da ist Margarine auf dem Brot und Streichwurst und dünner Tee und wenig Worte. Der Tag ist immer gleich und die Woche auch, weil selten mal Besuch kommt, denn die Kinder sind weit weg und haben ihr eigenes Leben. Das bisschen Gegenwart und viel Vergangenheit.

Und Maria, die ist eine von den Müttern, die ihren Kinderwagen durch die Fußgän-gerzonen schieben und die zu enge T-Shirts anhaben in grellen Farben. Zu zweit oder zu dritt gehen sie, mit so einer Art trotzigem Stolz. Eine von diesen Müttern, die noch Mädchen sind. Ihre Schwangerschaft hat wohl eher Befürchtungen als Freude ausge-löst. Ein Vater ist meistens nicht so richtig dabei. Man sieht ihnen hinterher und fragt sich, ob das wirklich sein musste und welche Zukunft sie jetzt eigentlich vor sich haben.

Solche Elisabeths, solche Marias, das sind die Menschen, die Gott ansieht. Man kann das nicht nur übersehen, sondern leicht auch überhören. Aber da singt keine ansehnliche junge Frau mit Glanz sogar in der Stimme. Da singt ein ganz junges jüdisches Mädchen aus der Unterschicht ihrer Zeit. Und dieses Mädchen ohne Ansehen singt mit der Kraft all der Frauen, die erfahren haben, dass Gott sie ansieht. Sie singt mit der dünnen alten Stimme Saras. Sie singt mit den Worten der gedemütigten Hanna und sie singt mit der Hoffnung der Asylantin Ruth auf eine Heimat.

Maria singt mit den Stimmen derer, die ohne Ansehen sind. Sie singt für die Elisabeths und die Marias unserer Zeit, für alle Frauen, die deren Stimme keiner hört, die gedemütigt werden und die keine Hoffnung auf ein Leben in Würde und Selbstbestimmung haben.

Es fällt mir schwer, es hier in der Predigt zu sagen, aber ich konnte in der vergangenen Woche nicht anders, als an das Lied der Maria zu denken. Das war, als Gisèle Pelicot nach der Verurteilung ihrer Vergewaltiger vor die Kameras trat. Sie denke an alle unbekannten Opfer und habe auch für sie diesen Kampf geführt, sagte sie. Und sie habe Vertrauen, dass wir gemeinsam eine Zukunft schaffen können, in der Männer und Frauen in Harmonie miteinander in Respekt und gegenseitigem Verständnis leben. Eine Frau, die das Allerschlimmste kennt, die in unfassbarer Weise gedemütigt und erniedrigt worden ist. Und die weiß, dass sie angesehen ist. Und bleibt.

Gott übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.

Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen.

Manchmal kommt es mir so vor, als wäre Maria ganz schnell bekleidet worden in Gold und Glanz und hoch emporgehoben, bis in den Himmel. Damit man das nicht mehr hören muss. Damit man ihr Lied vergessen kann, jedenfalls seinen Text und nicht immer an all die erniedrigten und gedemütigten Frauen dieser Welt denken muss.

Aber Gott gibt denen eine Stimme, die sonst keiner hört. Und lässt sie singen gegen alle Regeln der Welt. Denn bei Gott ist nichts unmöglich. Das ist die Erfahrung von Sara, von Hanna und Ruth und Naomi. Das haben Elisabeth und Maria am eigenen Leib erfahren. Und durch diese beiden kommt diese Geschichte Gottes mit seinen Menschen auch zu uns.

Durch das Kind, dass die Teenagermutter Maria empfangen hat, durch Jesus von Nazareth, geboren in einem Nest am Rand der damals bekannten Welt. In Marias Lied entfaltet sich die Verheißung Gottes für all die Menschen ohne Ansehen. Maria singt. Ich höre ihr Lied. Ich höre die Hoffnung in ihrer Stimme:

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;

Denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.

Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.

Und jetzt sehe ich Maria doch, hinter den tausend Bildern von ihr. Ich sehe eine sehr junge Frau in anderen Umständen. Und ich sehe das neue Leben. Sie trägt es noch verborgen in sich. Ich höre ihr Lied. Und ich sehe die Welt in anderen Umständen.

Amen.

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