Auf der Burg

Eine Predigt zu Phil 2,12f. am Reformationstag 2014 in Wittenberg

Ein Mensch in einer Zelle. Draußen schlägt der Regen gegen die Fensterscheiben. Der Wind pfeift um die hohen Mauern der Burg. Hier ist er vorerst sicher, aber auch gefangen. Es ist Oktober 1521. Draußen dreht die Welt sich weiter und er sitzt hier an seinem Schreibtisch. Manchmal, besonders in den langen, stürmischen Herbstnächten, wird er unruhig und ängstlich. Was soll nun aus ihm werden? Die viele Zeit weiß er zu nutzen. Er hat sich eine große Arbeit vorgenommen. Er übersetzt das Neue Testament aus dem Griechischen in Deutsche. Das geht ihm leicht von der Hand. Und abei übersetzt auch diese Zeilen. Sie stehen in einem kurzen Brief von Paulus an die Gemeinde in Philippi. Der schreibt:

Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit – schaffet, dass ihr selig
werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das
Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.


Als er das aufgeschrieben hat, steckt er die Feder in das Tintenfass zurück und blickt einen Moment lang auf die Zeilen. Paulus hat sie aufgeschrieben, damals. Aber es könnten beinahe seine Worte sein, heute.

II.
Ein Mensch am Boden. Auch Paulus wurde wie vom Blitz getroffen und aus seinem bisherigen Leben herausgerissen. So ähnlich war es doch auch bei ihm. Sein Vater hat jedenfalls nie ganz verstehen können, wieso er alles aufgegeben hat, um ein Bettelmönch zu werden, mit seiner guten Ausbildung. Ein Versprechen im Gewitter, in Todesangst, das muss ja nichts heißen.
Auch Paulus war ein Mensch unter Anklage, genau wie er. Auch Paulus wurde verhaftet und verhört, mehrmals und stand zuletzt sogar in Rom vor Gericht. Und den Brief, aus dem diese Zeilen stammen? Den hat Paulus im Gefängnis geschrieben. Da hat er gesessen ins seiner Zelle und wusste auch nicht, wie es weitergeht mit ihm. Bestimmt kannte er diese Nächte, die gar nicht aufhören wollen. In denen man sich hin und her wälzt
auf dem Kissen und sich fragt: War das wirklich richtig, was ich getan habe? Oder habe ich
mich vielleicht doch geirrt?

Paulus konnte nur mit seinen Briefen seinen Freunden nahe sein. So wie er, mit den vielen
Briefen, die von dieser Burg durch das Land gehen. Paulus schrieb an seine Freunde in
Philippi. Er schreibt an seinen Freund Philipp nach Wittenberg und an all die anderen. Also,
meine Lieben
…. So ähnlich fangen ja auch seine Briefe immer an.

III.
Ja, er kennt das alles. Am Boden zu sein und unter Anklage und gefangen in einer Zelle, verbunden mit anderen Menschen nur durch Worte auf dünnem Papier. Er erkennt sich wieder. Und am besten kennt er die Furcht und das Zittern. Das ist die Angst. Als er am Boden lag im Sommergewitter bei Stotternheim und er den Regen im Nacken spürte, da ist sie ihm unter die Haut gekrochen. Und sie ist bei ihm geblieben, viele Jahre lang.
Wie ist das mit Gott und mit mir? Kann ich bestehen vor seinem strengen Blick, kann ich seinem Anspruch jemals genügen? Damit hat er sich gequält, in der Zelle im Kloster und über den Büchern. Als ob sich hinter seinem Vater noch ein anderer Vater aufbauen würde, noch viel strenger und fordernder als sein eigener. Du sollst, sagt der immer nur und auf das Ich kann nicht hört er gar nicht. Und dann hat er versucht, diesem Du sollst zu gehorchen. Mit Gebeten mitten in der Nacht, mit wochenlangem Fasten, mit dem Lesen und Lernen, mit seinem ganzen Leben als Mönch. Aber die Angst saß ihm weiter im Nacken und unter der Haut. Ob das alles genügen wird, um Gott gnädig zu stimmen? Und kann ich mir irgendwann einmal sicher sein, dass es genug ist?

IV.
Es war Paulus, der ihm die Angst genommen hat. Ein Mensch wie er, am Boden, unter Anklage, in einer Zelle. Paulus hat geschrieben: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde, ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Nur Worte auf dünnem Papier. Er hat sie immer und immer wieder gelesen. Und auf einmal war es, als seien sie für ihn geschrieben. Die Worte haben sich übersetzt, in sein Leben hinein. Er hat verstanden: Nichts wirft dich zu Boden. Es gibt keine Anklage. Da ist keine Zelle. Du bist frei. Glaub daran.
Da war die Angst verschwunden, die ihm unter die Haut gekrochen war und ihm im Nacken saß. Und statt der Angst war da auf einmal eine große Freiheit. Zuerst war sie nur in ihm selbst. Aber er war so voll davon, dass sie sich ihren Weg nach draußen gesucht hat, zu Worten wurde auf Papier und auf seinen Lippen. Erst später bekam diese Freiheit einen Namen. Man sprach von „reformatorischer Entdeckung“ und von „Rechtfertigungslehre“. Man fing an, einen Ort zu suchen und ein Datum, an dem man diese Entdeckung feiern konnte. Und es wurde der 31. Oktober und es wurde die Schlosskirche in Wittenberg.

V.
Es ist heute und hier. Am Boden zu sein, unter Anklage, wie in einer Zelle, so fühlt sich das Leben manchmal an und alles, was darin ist, seine Mühen und seine Freuden. Ist es das schon, genügt es, kann ich mir irgendwann einmal sicher sein? Bin ich gut genug, liebenswert, angesehen, schön und klug genug? Ein Gefängnis aus der Angst, nicht zu genügen. Manchmal bin ich wie eingemauert darin. Und wenn sie sagen: Was soll das mit dem gnädigen Gott, da ist doch sowieso niemand, das glaubt doch heute keiner mehr – dann wird es ja nicht besser, im Gegenteil. Dann läge ich am Boden, stünde unter Anklage, säße in der Zelle und wäre ganz allein. Ich wünsche mir so, dass einer kommt, der sagt: Nichts wirft dich zu Boden. Da ist keine Anklage. Es gibt keine Zelle. Du bist frei.

VI.
Und es ist einer gekommen, der hat uns das noch einmal gesagt. Ich sehe ihn vor mir, an einem trüben Vormittag Ende Oktober, die Stadt grau und feucht eingehüllt in den Nebel aus der Flussniederung und die Pflastersteine nass vom feinen Regen. Er geht schnell, er muss zusehen, dass das dünne Papier nicht durchweicht. Der Weg durch die Stadt von der Universität zur Schlosskirche dauert ungefähr eine Viertelstunde. Zeit genug, um noch
einmal nachzudenken über das, was er vorhat. Je näher er der Schlosskirche kommt, desto schneller schlägt sein Herz. Das kommt nicht nur vom schnellen Gehen. Die Tür ist wie immer voll mit Papieren, Thesen, Ankündigungen, Aufrufe, einige schon zerrissen und unleserlich geworden. Er nimmt sie weg, um Platz zu haben für die Blätter, die er mitgebracht hat. Einige der Nägel kann er noch einmal verwenden. Seine Hand
zittert ein wenig, als er den ersten Nagel einschlägt. Und als er fertig ist, sieht er sich die Blätter noch einmal an:
Er hat geschrieben: „Aus Liebe zur Wahrheit und im Verlangen, sie zu erhellen, sollen die folgenden Thesen in Wittenberg disputiert werden unter dem Vorsitz des ehrwürdigen Pater Martin Luther, Magister der freien Künste und der heiligen Theologie, dort auch ordentlicher Professor der Theologie.“, so fängt es an. Und er schreibt weiter „Die unvollkommene geistliche Gesundheit des Sterbenden bringt notwendig große Furcht mit sich. Diese Furcht und dieses Erschrecken sind für sich allein hinreichend, um Fegfeuerpein zu verursachen.“ Ein Gefängnis aus Angst, aus Furcht und Zittern. Nicht einmal mit dem Tod geht das vorbei. Er sagt: Doch, damit ist es vorbei. Im Tod und noch viel mehr im Leben. Das hat er mit den Thesen gesagt, die er an die Schlosskirche genagelt hat. Und das ist seine These hinter den vielen Thesen: Nichts wirft dich zu Boden. Es gibt keine Anklage. Da ist keine Zelle. Du bist frei. Glaub daran.
Nur Worte auf dünnem Papier, bald schon fleckig und unleserlich an der Tür der Schlosskirche. Aber sie sind wie in unser Herz geschrieben, diese Worte, damals für ihn, heute für mich, morgen, immer.

VII.
Damals auf der Burg, da hat er sich zurückgelehnt und sieht noch einmal auf die Worte: Also, meine Lieben, – wie ihr allezeit gehorsam gewesen seid, nicht allein in meiner Gegenwart, sondern jetzt noch viel mehr in meiner Abwesenheit – schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern.
Mit Furcht und Zittern. Wenn er ein bisschen mehr Zeit hätte für die Übersetzung, dann müsste er darüber noch einmal nachdenken. Denn das klingt doch wieder so nach am Boden und unter Anklage und in der Zelle. Aber er meint es anders. Die Angst hat den Ort gewechselt. Sie ist nicht mehr als Antrieb in ihm. Sie ist nur noch eine Folge der Freiheit, eine Nebenwirkung des Glaubens.
Furcht und Zittern, das war sein Herzklopfen bei den Schlägen an die Tür der Schlosskirche. Das war der Schauer über den Rücken, als er da stand vor dem Kaiser. Und das ist auch die Ungewissheit hier in dieser Zelle auf der Burg. Das spürt er alles, aber es kommt nicht mehr bis in sein Innerstes hinein. Denn da wohnt nicht mehr die Angst, sondern die Freiheit.
Deswegen kann er mit dieser Furcht und diesem Zittern leben. Er hat keine Angst mehr. Aber er will bescheiden bleiben und demütig, auch unsicher und manchmal voller Zweifel. War es wirklich richtig, was ich getan habe? Oder habe ich mich vielleicht doch geirrt? An solchen Fragen erkennt man die wirklich freien Menschen.

Martin Luther sieht sich die Worte noch einmal an. Und dann nimmt er die Feder aus dem Tintenfass. Er unterstreicht den letzten Satz. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.
Dann tritt er ans Fenster und sieht hinaus. Weit liegt das Land vor ihm.

Amen.

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