Es war am 8. Mai dieses Jahres, am Tag der Befreiung und der Erinnerung an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 80 Jahren. Im Rahmen unserer Veranstaltungen dazu hatten wir auch den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge eingeladen, seine Arbeit vorzustellen. Und da durfte ich ihn einen Moment lang anfassen, diesen Gegenstand, den zu berühren mich berührt hat wie wenig anderes in diesem Jahr. Es war eine Grabflasche.
Ich wusste vorher nicht, was das ist und es wurde mir erklärt: Wenn noch Zeit war für ein richtiges Begräbnis und die toten Soldaten nicht einfach liegen blieben, wo sie lagen, dann gab man dem Toten manchmal eine Grabflasche mit. Irgendeine Flasche, in der Wein gewesen sein mochte oder Schnaps. Und in die Flasche tat man einen Zettel mit den Angaben zu dem Toten, wie Name, Rangbezeichnung, Truppenteil, Geburtstag, Tag des Todes, wenn vorhanden, auch eine Heimatadresse. Die Flasche, die ich anfassen durfte, sah nicht aus, als hätte sie über 80 Jahre in der Erde gelegen. Sie war jetzt sauber und ganz durchsichtig und der Zettel mit den sogar maschinengeschriebenen Angaben darin war nur wenig vergilbt. Ich konnte ihn ohne Mühe lesen. Der Soldat war sehr jung gewesen, Anfang zwanzig erst.
Eine Grabflasche aus einem Soldatengrab und in ihr eingeschlossen wie in einer Flaschenpost etwas wie der Wunsch, es möge sie einmal jemand finden. Und dann den Toten wieder nach Hause bringen. Oder wenigstens seine Familie über sein Schicksal benachrichtigen. Was sich damals niemand vorstellen konnte: Über 80 Jahre später, in einer Welt, die nicht mehr mit der Hand und nicht einmal mehr mit der Maschine schreibt, würde es eine Online-Gräbersuche geben. Dort kann man Namen und Geburtstage eingegeben. Und manchmal kommt dann die Flaschenpost aus dem Soldatengrab tatsächlich noch an. Und der Wunsch derer, die sie einmal abgeschickt haben: Wir warten hier nur. Wir hoffen, dass wir gefunden werden. Und nach Hause kommen, zu denen, die an uns denken.
Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und welkt, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht. Die Worte aus dem Buch Hiob scheinen auf den ersten Blick geeignet zu sein, um sie an diesen Tag zu heften, wie die roten Mohnblumen, die zum Symbol für die Toten des Ersten Weltkriegs geworden sind. Der Mensch geht auf wie eine Blume und welkt. So wahr und so schön wie diese Worte sind – ich bleibe ihnen gegenüber skeptisch, wenn sie mit den Toten der Kriege in Verbindung gebracht werden. Denn der Krieg ist kein natürlicher Vorgang. Ein Krieg ist auch keine Jahreszeit in der Weltgeschichte, mit der man sich abfinden müsste, wie mit der jahreszeitlichen Tatsache, dass es jetzt eben schon gegen fünf Uhr draußen dunkel ist. In den Soldatengräbern liegen Männer, viele davon sehr jung, deren Leben überhaupt gerade erst zur Blüte gekommen war und die ihr Reifen und ihr Welken nicht erlebten. Weil sie ihr Leben lang tot waren. Ihren Tod darf niemand wie etwas Natürliches hinnehmen.
Es wäre auch nicht im Sinne Hiobs, das mit den Blumen auf die Toten der Kriege zu beziehen. Denn Hiob ist der Mensch, der sich bis zum Äußersten an Gott heranfragt. In seinem eigenen Leiden, angesichts all dessen, was er verloren hat, und in seiner Trauer fragt er immer weiter: Warum? Und niemand kann ihm auf diese Frage eine Antwort geben. Nicht seine Frau und schon gar nicht seine wenig hilfreichen Freunde. Die fragen ihn immer bloß, ob er nicht ein bisschen selbst daran schuld sein könnte. Und so bleibt Hiob mit der Frage nach dem Warum? allein.
Im Blick auf die Soldatengräber gibt es sehr wohl eine Antwort auf die Frage nach dem Warum: Weil jemand diesen Krieg gewollt und ihn angefangen hat. Ich wünschte, die Rede davon, dass Kriege „ausbrechen“ würde endlich zum Verstummen gebracht werden. Kriege brechen nicht aus wie eine Krankheit oder eine Naturkatastrophe. Sie werden begonnen. Und an welchem Krieg wäre das besser zu sehen als an dem, der nun schon seit fast vier Jahren gegen die Ukraine geführt wird? Hier ist die Frage nach dem Warum erschütternd einfach zu beantworten.
Doch du tust deine Augen über den Menschen auf, dass du mich vor dir ins Gericht ziehst. Ach dass du mich im Totenreich verwahren und verbergen wolltest, bis dein Zorn sich legt, und mir eine Frist setzen und dann an mich denken wolltest! Alle Tage meines Dienstes wollte ich harren, bis meine Ablösung kommt. (Hiob 14, 7f.)
Hiob muss immer weiter nach dem Warum fragen. Und darin, in seinem Unverständnis, in den ausbleibenden Antworten bleibt er uns nahe. Auf die Frage nach dem Warum der Kriege gibt es eine Antwort. Aber wie es die Eigenart mancher Antworten ist, ist sie auch wieder keine Antwort. Alle Menschen, die sich für die Arbeit des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge interessieren und sich dafür engagieren, sind doch schon längst beim nächsten Warum angekommen: Warum beginnen Menschen überhaupt Kriege? Wir sehen die endlosen Reihen der Gräber, die blieben, wir wissen um das Schicksal der jungen Männer, die nur so kurze Zeit gelebt haben. Wir erleben, was es für ihre Familien bedeutet, endlich zu wissen, wo ihr Grab ist. Je mehr Zeit vergeht, desto größer werden doch die Fragen nach dem Warum. Weil wir in der Fürsorge für die Gräber der Soldaten immer noch genauer erfahren, was Kriege wirklich bedeuten. Und was sie anrichten auch bei denen, die sie überleben.
Und alle, die vielleicht gedacht haben, das ginge bestimmt irgendwann einmal vorbei, müssen heute feststellen, dass sich auch die jungen Menschen Anfang zwanzig noch für das Leben und Sterben ihrer Urgroßväter interessieren und sich davon berühren lassen. Wie eine Flaschenpost, die umso interessanter wird, je länger sie unterwegs war. Und die immer noch gefunden wird.
Hiob wünscht sich nichts anderes als Ruhe vor den ewigen Fragen nach dem Warum. Von Gott bekommt er einfach keine Antwort darauf. Und deswegen wünscht er sich, im Totenreich verwahrt und verborgen zu sein, bis die Zeit für die Antworten endlich da ist. Er stellt sich das vor wie einen Dienst, den ein Soldat tut, bis er irgendwann einmal abgelöst wird.
In den Gräbern, um die sich der Volksbund heute sorgt, liegen Männer, liegen Menschen, von denen wir annehmen können, dass die meisten von ihnen mit der Frage nach dem Warum als letztem Gedanken gestorben sind. Weil viele von ihnen sich das Soldat-Sein nicht ausgesucht haben.
Ein Echo dieser Wahrheit spüre ich in der Unruhe, die gerade in der Debatte um die Wiedereinführung der Wehrpflicht entsteht. Ich habe selbst einen Sohn, der sich das Soldat-Sein auch nicht aussuchen würde. Er ist Jahrgang 2007. Und als seine Mutter war ich in den letzten Tagen erschrocken über meine stille Erleichterung, dass er zunächst einmal von der Wiedereinführung der Wehrpflicht nicht betroffen sein wird. Niemand soll das falsch verstehen: Ich achte und respektiere den Dienst von Soldatinnen und Soldaten. Aber ich denke die Dinge auch zu Ende und ich weiß das Soldat-Sein und Krieg führen und in einem Krieg sterben am Ende nicht voneinander zu trennen sind. Das liegt auch daran, dass ich in diesem Jahr, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, so viel Gelegenheit hatte, mich zu erinnern. An den sehr jungen Soldaten zum Beispiel, dem seine Kameraden eine Flasche mit in sein Grab gelegt haben. Der einen Namen hatte und einen Geburtsjahrgang und eine Heimatadresse. Und einen Vater und eine Mutter.
Die Frage nach dem Warum hört nicht auf. Gerade wird sie für unsere Gegenwart wieder durchsichtig. Sie ist ohne Mühe zu lesen, in den Gesichtern der jungen Männer, die jetzt auf den Schulhöfen gefragt werden, was sie von der Wehrpflicht halten und kaum eine Antwort haben. Warum? Niemand sieht dieser Frage an, dass sie 80 Jahre mit in den Gräbern gelegen hat. Die Toten der Kriege waren diese ganze Zeit unter uns, verwahrt und verborgen. Durch die Arbeit des Volksbunds sind sie auch bewahrt und geborgen worden. Und mit ihnen wird die Frage bewahrt und geborgen, wie die Flasche aus dem Grab: Warum es Kriege geben muss und was wir gemeinsam für den Frieden tun können. Die Tage unseres Dienstes dafür haben gerade erst begonnen.
(Foto: Fund einer Grabflasche in Litauen, Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge)

