Bewegung und Dauer

Es war alles anders, als man lange gedacht hat. Die Entstehungsgeschichte der Kantate von heute ist ein gutes Beispiel für überraschende Wendungen. Lange Zeit ging man in der Bach-Forschung davon aus, dass diese Kantate zum Pfingstfest eines der spätesten Werke von Johann Sebastian Bach sei. So steht es auch noch in der Einführung aus dem Jahr 1974, die Sie in Ihrem Programm abgedruckt finden. Denn erst im Jahr 2010 fand sich in einem Archiv eine Partitur mit dem Text dieser Kantate aus dem Jahr 1727.

Bach hatte wohl auch nicht, wie man lange annahm, eine weltliche Kantate anlässlich einer Hochzeit geistlich umgestaltet, sondern er hat umgekehrt seine Pfingstmusik in eine Hochzeitsmusik für die Hochzeit der Tochter des Pfarrers der Thomaskirche in Leipzig umgearbeitet. Und man darf außerdem annehmen, dass er diese Pfingstkantate 20 Jahre nach ihrer Entstehung seinem Sohn Friedemann überließ, der auf seiner neuen Stelle in Halle gerade um etwas pfingstliche Musik verlegen war.

Wir haben statt einer der der spätesten auf einmal eine recht frühe Kantate, statt einer Kopie das Original. Und alles wurde auch noch weitergegeben an die nächste Generation und deren Interpretationen der gleichen Sache. Alles ist in Bewegung, nichts ist von Dauer, schon gar nicht musikwissenschaftliche Hypothesengebäude. Das ewige Feuer brennt, weil es immer neue Nahrung findet. Die ewige Liebe bleibt, weil sie sich immer wieder wandelt. Die Pfingstkantate wird in ihrer Geschichte und ihrer Gestalt zum Bild dessen, was Pfingsten von Beginn an ausgemacht hat: Das Miteinander von Bewegung und Dauer.

Denn die Partitur von Pfingsten ist die Geschichte von Menschen, die sehr verunsichert waren. Aber in einem waren sie sich sicher: Die Bewegung, die mit Jesus und seinem Wirken in der Welt und unter den Menschen begonnen hatte, die war jetzt wirklich zu Ende. Sie waren alle erschöpft von den überraschenden Wendungen und den tiefen Emotionen, die ihnen begegnet waren. Die schleichende Angst, die sie alle schon lange vorher hatten: Dass diese Sache mit Jesus kein gutes Ende nehmen würde. Das Entsetzen über seine gewaltsame Hinrichtung, die dröhnende Stille der Tage danach. Und dann, erst schleichend, dann überwältigend, die Nachricht, dass er wieder unter den Lebenden sein sollte. Die Freude über die Begegnung mit ihm, dem Auferstandenen, die Wochen des Zusammenseins, so verstörend gleich und doch völlig anders. Und nach diesem Glück und dieser Gemeinschaft dann wieder ein Abschied, als sie ihm nur noch hinterhersehen konnten, die Köpfe in den Nacken gelegt, bis er nicht mehr zu sehen war.

So viele Wendungen, so viel Bewegung und so wenig Dauer. Deswegen haben sich die Freundinnen und Freunde von Jesus ein Haus gesucht, eines, in dem sie bleiben konnten und die Türen zumachen. Um zur Ruhe zu kommen wahrscheinlich. Das, was ja immer alle so gerne wollen, zur Ruhe kommen, auch auf die Gefahr hin, dass man dann irgendwann das Haus im übertragenen und manchmal auch im wörtlichen Sinne kaum mehr verlässt und der Welt draußen abhandenkommt. Jetzt Dauer statt Bewegung ist ihr Motto. Aber kaum haben sie sich niedergelassen, bevor es anfangen kann mit der Dauer und der Ruhe, da weht es zu ihnen herein wie ein Sturm. Und es bricht ein Feuer bei ihnen ein, nicht aus.

Den Soundtrack zu diesem Pfingsterlebnis hat dann viele Jahrhunderte später Johann Sebastian Bach geschrieben, 1727, wie wir heute wissen. Also nach den ersten paar Jahren auf der festen Stelle in Leipzig, als alle Zeichen auf Dauer und Ruhe standen und er vielleicht, damit zu kämpfen hatte, wie er es hinbekommen sollte, trotzdem immer wieder Neues zu schaffen, kreativ zu sein, in künstlerischer Bewegung zu bleiben: Wenn sich im Außen erst einmal nichts mehr ändert, man sich mit dem ignoranten Rat der Stadt Leipzig herumärgern muss und man trotzdem an jedem einzelnen Sonntag eine neue Kantate schreiben soll. Wer kennt das nicht aus dem eigenen Leben? Wer wüsste nicht, wie schwierig das hinzubekommen ist, das Verhältnis von Bewegung und Dauer. Wie behält man das bloß beides zusammen?

Bach hat eine musikalische Sprache dafür gefunden und mit ihr  ausgedrückt, was er vielleicht gar nicht in Worte hätten fassen können. Es gehört zusammen, schon im Eingangschor, Bewegung und Dauer, in atemlosen Sechzehnteln dahinrasende Instrumente und ruhige, andauernde Haltetöne. Und dann wird es so schön, so faszinierend zu hören und gleichzeitig so, dass man sich dazu setzen möchte, um sich daran zu wärmen, wie wir heute abend. Eine Musik wie ein Feuer, das die lodernden Flammen und die stille Glut gleichzeitig hat, wie die Alt-Arie in der Mitte der Kantate. Bewegung und Dauer gehören zusammen. Und es darf nicht passieren, dass das eine das andere verdrängt.

Die Jesusfreundinnen und -freunde in der Pfingstgeschichte sind zu diesem Soundtrack aufgebrochen, hinein in die Welt und das Leben, beweglich und auf einmal so kommunikativ, dass es nicht einmal mehr Sprachhindernisse für sie gab. Alles weggeweht, alle angesteckt von diesem ewigen Feuer. Wir wissen 2000 Jahre später längst, wie ihre Geschichte weitergegangen ist. Wir wissen vor allem, dass das Bedürfnis nach Dauer sehr oft gesiegt hat in der Geschichte des Christentums und der christlichen Kirchen. Wir sehen, wie die Bewegung vom Anfang erstarrt ist in dem, was Dauer garantieren soll, in Institutionen, Ämtern, Ordnungen und vor allem in Gebäuden aus Stein. Das ist eine Interpretation der Partitur der christlichen Kirche, die die nächsten Generationen unternommen haben. Aber immer nur eine und nie die einzige.

Denn es geht darum, dass beides zusammenbleibt, Bewegung und Dauer. Ein Satz wie „Das haben wir schon immer so gemacht“ ist kein christlicher Satz. Auch wenn ich ihn noch nie so oft gehört habe wie in kirchlichen Zusammenhängen. Ich stelle mir manchmal vor, wie es gewesen wäre, wenn der Satz „Das haben wir schon immer so gemacht“ zum Beispiel für Martin Luther irgendeine Bedeutung gehabt hätte. Nichts mit Reformation wäre dann gewesen, nichts mit all den Veränderungen hin zu einer größeren Freiheit der Christenmenschen.

Wer immer nur Angst hat vor den überraschenden Wendungen, vor den Schmerzen des Abschieds, vor Veränderungen des Gewohnten, der oder die kann sich hinter verschlossenen Türen verkriechen und dort seine Ruhe haben.

Aber er oder sie bringt sich auch um die Freude, um die Überraschung, wenn etwas Neues beginnt, um die Begeisterung und die Liebe zur Sache. Wir sind als christliche Kirchen gerade in einer Situation, in der es sehr dringend anders werden muss, als wir es lange gedacht haben und gut kennen. Wir müssen in Bewegung bleiben, wenn es für uns eine Dauer geben soll.

Als Johann Sebastian Bach seine Pfingstmusik seinem Sohn Friedemann in die Hand gegeben hat, da war er übrigens auch nicht frei von dem Bedürfnis nach Dauer. Ungewöhnlich viele und genaue Anweisungen für die Aufführung stehen in der Partitur, so als wollte der Vater dem Sohn mitgeben, was er als geeignet und gelungen empfunden hat, all seine Mühe und Erfahrung mit dieser Musik. Aber letztlich hat er aus der Hand gegeben und seinem Sohn überlassen, wie es sich dann anhören wird. Und er war dann auch gar nicht mehr dabei. Aber seine Musik klingt weiter. Das Feuer brennt, die Liebe bleibt. Ewig.

(BILd: Emil Nolde, Pfingsten, 1909; Rechte: Emil Nolde Stiftung Seebüll)

Nach oben scrollen