Blick fürs Unsichtbare

Eine Predigt zu 2. Kor 4,14-18 am 17. April 2016 im Universitätsgottesdienst in Erlangen

(Morten Harket)
Er war ein Gott. Jedenfalls damals, als wir fünfzehn waren. Jetzt steht er wieder auf der Bühne. Und er sieht von dort oben die Gesichter, die Körper. Die Frauen brauchen, anders als damals, die Stunde im Bad jetzt wirklich, um heute Abend so auszusehen. Fältchen, auch Falten, ein lässiges Top, Jeans natürlich, ein bisschen zu viel um die Hüften. Die Männer mit deutlich weniger Haar und deutlich mehr Bauch. Auch das alte Tour-T-Shirt kann das nicht kaschieren. Für heute Abend haben sie es von ganz unten aus dem Schrank geholt, aus der Ecke hinter den Oberhemden.
Er steht auf der Bühne und sieht die Frauen und die Männer, dreißig Jahre später. Sie jubeln und klatschen heute Abend wie damals, als sie noch nicht viel wussten von der ersten Liebe. Und noch weniger von der zweiten und der dritten Liebe. Als sie nichts wussten von der Arbeit, der Karriere, dem Mann, der Frau, den Kindern, dem Auto, der Wohnung, dem Haus, dem Urlaub, zwei Wochen in der Sonne. Davon, wie es einmal sein wird, wenn sie das alles haben. Oder nicht haben. Was es mit ihnen macht und wie es sie verändert. Er sieht sie und sie sehen ihn auf der Bühne. Als seien die Jahre fast spurlos an ihm vorbeigegangen, so steht er da, in Jeans und T-Shirt, ohne Bauch und mit Haaren, sein Körper, sein Gesicht, lässig und schön wie damals. Sie jubeln, sie klatschen, weil man dreißig Jahre einfach mal vergessen kann an einem Abend wie diesem. Und er ist ein Gott. Weil sie in ihm das sehen, was immer noch in ihnen ist. Und weil er in ihnen das sieht, was nicht vergeht.

(Mir tun die Füße weh)

Darum werden wir nicht müde;
sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt,
so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.

Ach, Paulus, sag sowas nicht. Wir werden doch müde. Schon wenn wir von so einem Konzert nach Hause gehen, tut uns der Rücken weh und die Füße und wir sind regelrecht dankbar über einen Sitzplatz in der S-Bahn nach Hause. Wir werden müde, Paulus, weil dreißig Jahre doch eine lange Zeit sind. Und wir das auch deutlich sehen, an unseren Gesichtern und un- seren Körpern, wenn die Lichter wieder angehen und wir abends nach dem Konzert vor dem Spiegel stehen ohne Makeup. Dreißig Jahre sind ein gutes Stück vom Leben. Vor allem, weil doch niemand von uns weiß, wie viele Stücke das Leben eigentlich hat. Ob es nicht zu Ende geht vor der Zeit, die wir für angemessen halten und wir ganz stumm werden vor einem Schicksal, das da ins Nachbarhaus eingezogen ist. Oder was sein würde, wenn es bei uns an der Tür klingelt und wir ihm aufmachen müssen, ob wir wollen oder nicht. Und tief innen haben wir uns gewöhnt daran, dass es vielleicht einfach so ist. Wir leben. Und leben so lange, bis irgendwann, mehr oder weniger, langsam oder plötzlich sichtbar wird, dass wir sterben müssen, an unserem Gesicht, an unserem Körper. Aber wir werden müde, Paulus, wenn wir zusehen müssen, wie unser äußerer Mensch verfällt. Und manchmal sind wir sehr müde davon. Und dann ist es so schwer für uns zu glauben, dass es so ist, wie du sagst: Dass der, der den Herrn Jesus auferweckt hat, uns auch auferwecken wird mit Jesus (2. Kor 4,14). Und dass wir einmal vor ihm stehen werden. Dass wir leben und sterben – und leben.

(Innen fünfzehn)

„Schade“, sagt meine Schwester vor dem Spiegel, als wir uns fertig machen für das Konzert. Sie meint damit die Spuren der Jahre in unseren Gesichtern und dass es jetzt länger dauert, bis wir schön sind, als vor dreißig Jahren. Sie stellt das fest, aber sie sagt es ohne Bedauern. Und dann malt sie sich die Lippen sehr rot, bevor sie sich von ihrem Spiegelbild verabschiedet. Denn heute Abend merken wir beide: Es gibt noch etwas anderes in uns. Einen Teil, dem die Jahre nichts anhaben können. Etwas, das nicht vergeht. Es ist nicht so, als blieben wir innendrin ewig fünfzehn, jung, sorglos und unwissend, jubelnd und klatschend. Denn Arbeit, Mann und Kinder, Urlaub, zwei Wochen in der Sonne, das haben wir jetzt alles. Und das hat uns auch innendrin verändert. Aber dieser Teil von uns wird nicht müde davon. Er wacht Tag für Tag auf. Wie man aufwacht, wenn man gut geschlafen hat und sich wie neu fühlt. Diesen Teil, dem die Jahre nichts anhaben können, den nennt Paulus „innerer Mensch“. Im Spiegel kann man ihn nicht sehen. Denn im Spiegel sieht man bloß die Falten und die Kilos zu viel. Vergleicht das Bild von heute mit dem Bild von vor dreißig Jahren. Und ja, das ist dann gelegentlich zu bedauern. „Schade“, sagt meine Schwester und sie hat recht damit. Aber es ist gut, wie sie sich dann die Lippen anmalt und weggeht von diesem Spiegel. Weil sie weiß: Es gibt noch mehr, in mir. Und heute Abend ist nur das wichtig. Wer vor dem Spiegel nicht wegkommt in seinem Leben, und nur auf das sieht, was vergeht, muss traurig werden. Aber wer den Teil spüren kann, dem die Jahre nichts anhaben können, wird froh.

Wir sehen nicht auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare.
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

(The Sun Always Shines On TV)

„Applaus, Applaus. Wer jetzt erst kommt, kommt eigentlich genau richtig. Denn die Zugabe, sie ist das Ostern des Konzerts. Die Gewitterwolken haben sich verzogen. „The Sun Always Shines On TV“ scheint wie eine warme Woge Frühling von der Bühne. Auch Morten blüht auf. Wie Jesus breitet er die Arme aus, als würde er sagen wollen: Seht, ich bin für euch gestorben und doch wiederauferstanden.“ (Julia Friese, Berliner Morgenpost, 14.04.2016)

Er war ein Gott für uns, damals, als wir fünfzehn waren. Und heute abend wischt er die Jahre weg und überschwemmt uns für einen Abend mit einer warmen Woge Frühling und Jugend. Und plötzlich sind wir ganz sicher, dass es das gibt: Einen Teil von uns, dem die Jahre nichts anhaben können. Was damals war, verändert das, was jetzt ist. Weil einer das in uns sieht, was nicht vergeht. Und nun kommt das Schwierige. Oder das Leichte. Wir sollen es genauso machen wie dieser Gott auf der Bühne, meint Paulus. Bloß andersherum. Denn nicht nur die Vergangenheit verändert die Gegenwart. Auch die Zukunft.

Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist,
schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit, uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare,
sondern auf das Unsichtbare.

Wir sehen alle auf das Unsichtbare. Das ist unsere Zukunft, von der wir doch nicht einmal den nächsten Tag wirklich kennen, wenn wir ehrlich sind. Und deswegen müssen wir es unbedingt so machen, wie es meine Schwester vor dem Spiegel gemacht hat. Nicht endlos auf die Gegenwart starren und wie es da aussieht. Wer vor dem Spiegel nicht wegkommt in seinem Leben und nur auf das sieht, was da ist, muss traurig werden. Aber wer den Teil spüren kann, dem die Jahre nichts anhaben können, der immer da ist, damals und heute und ganz sicher auch morgen, der malt sich die Lippen rot und geht los. Und morgen kommt dir entgegen wie eine warme Woge Frühling.

Denn wenn das Herrlichkeit hatte, was aufhört,
wie viel mehr wird das Herrlichkeit haben, das bleibt. (2. Kor 3,11)
Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.

Und ganz am Ende steht Gott selbst auf der Bühne und du wirst vor ihm stehen und es wird dich überschwemmen und alles mitnehmen, was schwer war. Du wirst es hinter dir lassen, so wie eine Mutter die Schmerzen bei der Geburt einfach vergisst.
Und alles wird jung sein und Ostern und Frühling. Und die Sonne wird scheinen.
Und du wirst leben.

Amen.

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