Der Blick geradeaus

Der Blick geradeaus

Predigt zu Sprüche 4, 18-27

Heute ist ein guter Tag für Mahnungen an junge Männer. Denn heute müssen wir uns von jungen Männern aus unserer Gemeinde verabschieden. Die beiden werden neue Wege einschlagen, die sie leider aus der Gedächtniskirche wegführen werden. Und wie jeder Abschied, erinnert uns auch dieser von euch an die Aufbrüche, Abschiede und Anfänge, die wir hinter oder vielleicht auch noch vor uns haben.

Passenderweise habe ich gerade gestern im Radio noch einmal das bekannte Gedicht Hermann Hesses gehört, das mit den Lebensstufen. Ich zitiere daraus: Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe / bereit zum Abschied sein und Neubeginne, / um sich in Tapferkeit und ohne Trauern / in andre, neue Bindungen zu geben. / Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, / der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Ach, Hermann, habe ich gedacht. Wie verdächtig ist dies kleine, mahnende Wort „muss“ in deinem Gedicht. Es muss zum Abschied bereit sein das Herz, dichtest du. Und das musstest du wohl so machen, weil unsere Herzen das in der Regel nicht sind: Bereit zum Abschied. In unserem speziellen Fall heute kann ich nichts über eure Herzen sagen. Ich weiß nicht, wie es in euch aussieht, ob ihr dem Lebensruf an andere Orte gerne oder doch eher zögerlich folgt. Aber in jedem Fall stehen euch Neuanfänge bevor. Und uns anderen die dazugehörigen Abschiede.

Ich muss bereit sein, mich von dem Organisten und dem Mitarbeiter im Kirchenmusikbüro zu verabschieden. Aber es bleibt ein Muss für mich. Denn lieber würde ich und viele andere auch weiter mit euch zusammenarbeiten. Tapfer, meinetwegen, aber nicht ohne trauern, so fühle ich mich heute. Der Zauber des Anfangs wartet auf euch drei, das hoffe ich sehr. Aber der Schmerz des Abschieds bleibt. Mahnungen sind eigentlich das letzte, was man in so einer Situation gebrauchen kann.

Dass das Leben ein ständiges Abschiednehmen und Anfangen ist, dass Lebensphasen oder meinetwegen auch -stufen aufeinander folgen und wir sie durchschreiten, ist keine besonders originelle oder neue Einsicht. Wer kennt es nicht aus dem eigenen Leben: So war es, als ich den Studienort gewechselt / eine neue Stelle angefangen habe / in eine neue Stadt gezogen bin? Und wie das war, gut oder nicht so gut, daran erinnert man sich auch, wenn man den Fuß auf eine neue Stufe des Lebens setzt. Oder auch nur anderen dabei zusieht. Manchmal kann man das Gefühl haben, das Leben bestehe überhaupt nur aus Stufen. Und da sei gar kein Weg zu erkennen.

Wie gut, dass wir uns nicht mit Hermann Hesse allein zufriedengeben müssen. Wie gut, dass wir die Bibel haben, in der so viel Glaubenserfahrung und Lebensweisheit gesammelt und für uns aufgeschrieben worden ist. Die Mahnungen an die jungen Männer, an die Söhne, sind im Buch der Sprüche zu finden, in der Abteilung „Lebensweisheit“ in der Bibel, gleich hinter den Psalmen und vor dem Buch des Predigers. Unter der Überschrift „Väterliche Mahnung“ steht da im vierten Kapitel:

Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet bis zum vollen Tag. Der Gottlosen Weg aber ist wie das Dunkel; sie wissen nicht, wodurch sie zu Fall kommen werden. Mein Sohn, merke auf meine Rede und neige dein Ohr zu meinen Worten. Lass sie dir nicht aus den Augen kommen; behalte sie in deinem Herzen, denn sie sind das Leben denen, die sie finden, und heilsam ihrem ganzen Leibe. Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn daraus quillt das Leben. Tu von dir die Falschheit des Mundes und sei kein Lästermaul. Lass deine Augen stracks vor sich sehen und deinen Blick geradeaus gerichtet sein. Lass deinen Fuß auf ebener Bahn gehen, und alle deine Wege seien gewiss. Weiche weder zur Rechten noch zur Linken; wende deinen Fuß vom Bösen. (Spr 4, 18-27)

Mahnungen an junge Männer, an junge Menschen, Sprüche, die man ihnen auf ihren Weg mitgeben kann. Noch sind bei uns zwar Sommerferien, aber schon am 1. August hat in den Betrieben das neue Lehrjahr begonnen. Viele junge Menschen brechen in diesen Wochen auf, zum Beispiel zu einem Freiwilligendienst. Heute richtet wohl kein Vater und auch keine Mutter solche mahnenden Worte an die Kinder, die ins Leben hinausgehen. Weil man sich ja mit Ratschlägen auch zurückhalten soll und die Kinder ihre eigenen Erfahrungen machen lassen.

Ich werde auch nicht die Bibel aufschlagen und meinem eigenen Sohn nächste Woche am Flughafen aus dem Buch der Sprüche vorlesen. Aber im Herzen werde ich sie ihm zuflüstern und sie im Stillen zu ihm sagen: Der richtige Weg durch das Leben, der, den immer alle suchen, der ist deutlich markiert wie die Leuchtstreifen auf dem Boden dieses Flugzeugs, in das du gleich steigst. Aber diese Worte führen dich nicht bloß zu einem Notausgang.

Die sich an Gott halten, finden ihren Weg ohne Mühe, sagen die Worte. Er leuchtet ihnen auf Schritt und Tritt entgegen. Wie gut das ist, sich diese Lebenserfahrung, die Weisheit anderer ausborgen zu können, besonders dann, wenn es nicht so einfach geradeaus geht. Auch wenn es gerade noch nicht zu sehen ist, es wird sich schon noch zeigen, was der richtige Weg ist und dass es der richtige Weg war: Der Gottlosen Weg aber ist wie das Dunkel, sie wissen nicht, wodurch sie zu Fall kommen werden.

Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen. Leuchtende Worte, die Orientierung geben. All die Ungewissheit, die unsere Abschiede und Neuanfänge im Leben begleitet, die Tapferkeit, die wir dafür brauchen, die Trauer, die wir dabei spüren, diese Stufen, die einem manchmal himmelhoch und unüberwindbar vorkommen – in all dem gibt es einen Weg. Durch all das hindurch gibt es einen Weg und der geht so: Behüte dein Herz. Sei kein Lästermaul. Wende dich vom Bösen ab. Und – es wird zweimal gesagt, weil es so wichtig ist – richte deinen Blick nach vorn, nach geradeaus.

Ich ergänze aus mütterlicher Erfahrung und meinetwegen Weisheit: Es ist wirklich sehr schwer, seine Kinder gehen zu lassen. Denn in der Regel drehen sie sich nicht noch einmal um, nicht einmal am Flughafen. Sie schauen nicht zurück. Es ist auch besser so, denn es ist ihr Leben und ihr Anfang. Und gehen tut man nun einmal am besten, wenn man nach vorne sieht, mit dem Blick geradeaus.

Heute ist ein guter Tag für Mahnungen an junge Männer, Sie gehen an Euch beide heute, weil ihr geht. Aber eigentlich gehen sie an uns alle. Und wenn man die Bibel nimmt anstatt Hermann Hesse, dann sind da auf einmal gar keine Mahnungen mehr und kein Muss. Da sind nur die Erfahrungen von Menschen mit Gott, aus denen ein Versprechen geworden ist, leuchtende Worte voller Licht und Orientierung. Der Gerechten Pfad glänzt wie das Licht am Morgen, das immer heller leuchtet bis zum vollen Tag. Und wir gehen, den Blick geradeaus.

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