Eine Predigt zu Jes 35,3-10 am 9. Dezember 2018 in Berlin im Gottesdienst zur Einführung
28. November 2018. Eine kleine Familie unterwegs. Vater, Mutter, Kind haben ihre provisorisch eingerichtete Wohnung wieder verlassen. Auf der Suche nach einer warmen Mahlzeit leuchtet ihnen ein Stern den Weg. Sehen konnten sie ihn schon aus den Fenstern ihrer Wohnung. Er bewegt sich und bewegt sich nicht. Denn er dreht sich immer im Kreis um sich selbst. Der Wind ist kalt und die dicke Jacke ist noch im Karton. Zum Glück hat das Kind seine Mütze aufgesetzt. Am Ende der Straße wissen die drei wieder, wo sie sind. Das geht ja wirklich schnell hier zum Ku`damm, Ecke Tauentzien. Und ganz ohne Taxi. Da stehen die drei, mitten in der größten zusammenhängenden Weihnachtsbeleuchtung Europas. 4,5 km lang, 600 geschmückte Bäume, insgesamt 230 km Lichterketten vom Kaufhaus des Westens bis zum Rathenauplatz. Am Nachmittag des 28. November wurde sie eingeschaltet. Ein direkter Zusammenhang zur Ankunft der Neu-Berliner besteht nicht.
Der Ku‘damm ist ein leuchtender Weg in diesen Tagen. Ehe es richtig dunkel wird, schalten sich die Lichterketten ein. Bevor es still werden kann, läuft an jeder Ecke weihnachtliche Musik. Im Eingang der großen Kaufhäuser muss das Kind die Mütze schnell abnehmen, so warm ist es darin. Und schnell bist du auch an der Frau vorbei. Gebückt steht sie neben einer Weihnachtsbude. Sie hält keinen Becher mit Glühwein, sondern dir einen Pappbecher hin. Ihre Mütze ist ganz zerfranst, ihr eines Auge mit einem Pflaster verklebt. So steht sie da mit ihren Tüten. Die sind groß und unförmig und es steht nicht KaDeWe drauf und es sind keine Geschenke drin. Irgendwann gehen auch hier die Lichter aus. Dann muss die Frau woanders hin. Wie sich das anfühlt, wie das ist, da wo sie hingeht? Würde ich stehenbleiben im Strom der Menschen, mich auf den Boden knien, meine Hände auf das Straßenpflaster legen, dann fühlte ich etwas davon. Wie kalt die Steine sind und wie hart. Aber der Strom würde sich wahrscheinlich einfach teilen um mich. All die Menschen würden weitergehen zur nächsten Bude, ins nächste Geschäft, mit ihren Plänen für den Abend und ihrem weichen Bett zuhause oder im Hotel. Der Ku‘damm ist ein leuchtender Weg in diesen Tagen. Der Ku’damm ist eine Straße aus kalten Steinen.
Wem so etwas auffällt, der ist neu in der großen Stadt. Und auch empfindlicher als sonst. Die Frage, wo du die Nacht verbringst, wo du etwas zu essen herbekommst – das ist ganz bestimmt nicht die Frage einer Pfarrerin, die gerade ihre großzügige Dienstwohnung bezogen hat und ein Dienstverhältnis auf Lebenszeit antritt. Nur ein Hauch weht mich davon an, in den wenigen provisorischen Tagen des Umzugs, zwischen Pappkartons, auf der Suche nach dem Supermarkt. Es sind nicht meine Fragen und es ist nicht meine Not. Aber weil ich neu bin hier, sehe ich die Gegensätze dieser Stadt noch, das Sechs-Sterne-Hotel und die Bahnhofsmission am Zoo, das Day Spa mit Treatments aller Art und das Hygienecenter, Designerkleidung und gespendete Wollmützen. Den leuchtenden Weg und die kalten Steine. Die Gegensätze dieser Stadt sind die Gegensätze dieser Welt. Und es ist schwer, damit zurechtzukommen. Die Frau mit dem Pappbecher braucht etwas anderes als mein Kleingeld und mein Mitleid. Ich kann es ihr nicht geben. Ich habe keine Lösung für sie, genauso wenig wie für all die anderen Gegensätze dieser Welt.
Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache, Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. (Jes 35,3)
Fürchtet euch nicht. Gott kommt zur Rache. Was ist das für ein Satz? Ich höre ihn so: Gott kommt zur Welt. Damit sie nicht so bleibt wie sie ist. Und falls du schon müde geworden bist, schwankend, verzagt, lass es dir sagen: Gott kommt. Und es ist nicht egal, was er vorfindet in unserer Welt. Gott sieht, was wir auch sehen. Der leuchtende Weg durch diese Stadt beginnt an einem riesengroßen Kaufhaus. Aber er endet im Dunkel. Ja, ich werde auch einkaufen gehen am Ku’damm, bestimmt sehr oft, denn es ist wunderbar, all die Geschäfte direkt vor der Tür zu haben. Aber der Sinn meines Lebens besteht nicht im Einkaufen. Von diesem Strom will ich mich nicht mitreißen lassen. Ja, wir haben die längste zusammenhängende Weihnachtsbeleuchtung Europas auch sehr bewundert. Wir sahen mit unseren offenen Mündern wahrscheinlich genau wie der „Besuch aus der Provinz“ dabei aus, für den die echten Berliner immer ein bisschen Spott übrig haben. Es wird allerdings schon sorgenvoll gefragt, ob im nächsten Jahr am Ku’damm die Lichter ausgehen. Ob es auch im nächsten Jahr noch einen Sponsor geben wird, der die halbe Million Euro für die Weihnachtsbeleuchtung aufbringt. Ich sage: Eine halbe Million Euro kann man auch für etwas Anderes ausgeben als für Glühbirnen. Es gibt Wichtigeres in dieser Welt. Uns Neu-Berlinern hat ein Stern den Weg geleuchtet, der sich ununterbrochen nur um sich selbst dreht. Das kann nicht das Zentrum Europas sein. Und das ist nicht das Licht, in dem ich stehen will.
Auf dem leuchtenden Weg die einen, auf den kalten Steinen die anderen. So ist das nun mal, sagen alle, nicht nur am Ku’damm. Ich suche nach einem anderen Weg. Gott kommt und hilft mir. Gott sagt: Wie es ist, so bleibt es nicht. Blind für die Frau mit dem Pappbecher, taub für das Sprüchlein des Zeitungsverkäufers in der Bahn. Lahm, wenn es um Engagement geht, stumm, wenn es um eine Meinung geht. Wie es ist, so bleibt es nicht. Blinde werden sehen. Taube werden hören. Lahme werden springen. Stumme werden singen. Die Wüste wird zum Fluss. Die Dürre wird zur Quelle. Die Bäume auf dem Ku’damm werfen ihre Glühbirnen ab, sie schlagen aus und treiben grüne Blätter, 4,5 km durch die Stadt, vom KaDeWe bis zum Rathenauplatz, mitten im Winter. Dein Herz ist keine Wüste. Du bist nicht gepflastert mit kalten Steinen innendrin. Wirf das alles ab, tu den Sand weg und die Steine. Treib neu aus, mitten in dieser Stadt. Gott kommt und hilft dir.
Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird, die Erlösten werden dort gehen. Am Ku’damm, Ecke Tauentzien macht die Straße einen Knick. Stellt euch nachher, wenn wir rübergehen ins Gemeindehaus, vor diese Kirche. Seht es euch an. Seht auf und erhebt eure Häupter, draußen an der Ampel zur Rankestraße, weil sich eure Erlösung naht. Gott macht einen Knick in die Wege der Welt. Wie es ist, so bleibt es nicht. Daran glauben Menschen, schon lange vor uns. Auch sie wurden müde dabei, schwankend, verzagt. Und hörten: Seid getrost. Fürchtet euch nicht. Wie es ist, so bleibt es nicht. An diesem Knick in den Wegen der Welt ist Gott zu erkennen. An dem, was anders ist, als das, was wir kennen. Angefangen hat es mit seiner besonderen Liebe zum Volk Israel, dem kleinsten unter allen Völkern. Entlaufene Sklaven und kleine Leute, denen Gott den Weg durch die Wüste gezeigt hat. Und Gottes Geschichte mit den Menschen ging weiter. Mit einer kleinen Familie unterwegs, dem Stern über einem Stall, ohne Glühbirnen, ohne Bett. Ein Neugeborenes im Stroh, Jesus, Gottes Sohn. Später reitet er die Prachtstraße entlang in die Stadt, als König. Aber er sitzt auf einem Esel dabei. Jesus ist gut Freund mit allerlei Nachtgestalten. Er ist bei den Armen, den Verrückten, den Kranken, den Kindern. Gestorben ist er draußen vor der Stadt, da, wo sich die Wege im Nichts verlieren. Jesus ist die Straße mit den kalten Steinen bis zum Ende gegangen, damit dort keiner alleine ist. Ein Knick in den Wegen der Welt.
Am Ku’damm, Ecke Tauentzien ist dieser Knick. Da steht eine Kirche, die Gedächtniskirche. Sie sieht selbst geknickt aus mit ihrem abgebrochenen Turm. Seit zwei Jahren hat sie auch noch einen Riss zu ihren Füßen, in Erinnerung an das Attentat auf dem Breitscheidplatz. Ich stehe mit euch hier, als neue Pfarrerin in dieser Kirche und dieser Gemeinde. Das ist auch ein Knick auf meinem Lebensweg, eine neue Richtung. Diese Kirche ist für mich eine Haltestelle der Hoffnung. Ich brauche sie wie ihr. Hier werden wir gestärkt und fest gemacht. Hier werden wir getröstet. Sie ist offen für dich, ob du vom leuchtenden Weg kommst oder von den kalten Steinen.
Und wenn wir wieder vor die Tür treten, dann sehen wir auf.
Wir sehen: Der Weg ist noch weit.
Aber es gibt eine andere Richtung in dieser Welt.
Und uns leuchtet ein anderer Stern.
Amen.