Den Mund geöffnet wie zum Schrei. So stelle ich ihn mir vor. Sein Kopf auf einen Pfahl gespießt, der Pfahl hoch aufgerichtet über dem Richtplatz bei Mühlhausen, aber seine Augen sind geschlossen. Kein letzter Blick über die weiten Hügel, keine starrende Frage: War es das wert? 6000 tote Bauern, nur sechs tote Soldaten im fürstlichen Heer. Nicht einmal die Verluste sind hier annähernd gerecht verteilt. Es gibt keine Gerechtigkeit in der Welt. Es gibt sie nicht, also müssen wir sie herstellen, hatten sie gedacht. Lasst uns die Welt umkehren und die Verhältnisse. Und dafür lasst uns jetzt die Pflugscharen zu Schwertern machen und die Sicheln zu Spießen.
Der Aufstand unter dem Regenbogen ist, woran wir heute erinnern. Die Fahne der aufständischen Bauern, angeführt von Thomas Müntzer, trug einen Regenbogen, das Zeichen des Neuanfangs, nachdem die Sintflut alles zerstörte. Die Menschen sind böse, von Jugend auf. Das Dichten und Trachten ihrer Herzen ist böse. Das ist das wenig optimistische Menschenbild der hebräischen Bibel. Aber noch lange kein Grund für Gott, die Sache mit den Menschen aufzugeben. Der Regenbogen wird zum Zeichen eines Neuanfangs, des Bundes, eines weiteren, bis heute andauernden Versuchs Gottes mit diesen Menschen, das Symbol der nicht enden wollenden Hoffnung auf die Verbesserlichkeit dieser Welt und dieser Menschen.
Thomas Müntzer war der Überzeugung, alles müsse „zurückgedrängt oder vernichtet werden, was den Menschen in kreatürlicher Abhängigkeit hält“ (Goertz 227). Diese „Kreaturenfurcht“ verkörpert sich für ihn zunächst in den geistlichen, aber auch in den weltlichen Autoritäten seiner Zeit. Sodann: „Die Revolution des Bewusstseins ist eine politische und soziale Revolution“ (233). Innen und Außen können gar nicht voneinander getrennt werden. Für Müntzer muss zusammenbleiben, was zusammengehört: „Das Volk wird frei werden, und Gott will allein der Herr darüber sein.“
Die Erinnerungskultur der Deutschen Demokratischen Republik hat den Revolutionär Thomas Müntzer vom Theologen Thomas Müntzer trennen wollen und ihn damit noch einmal zerreißender Folter ausgesetzt. Der Aufschrei des schon Hingerichteten gegen diese Trennung wurde übertönt im Lärm der Ernteschlacht der Traktoren, die den Pflügen und Sicheln der toten Bauern folgten. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften trugen stolz den Namen „Thomas Müntzer“ – nachdem ein weiterer Aufstand der Bauern, der gegen die Enteignungen der sogenannten Bodenreform, niedergeschlagen war.
„Omnia sunt communia“, alles gehört allen. Da haben wir es doch, das, was Thomas Müntzer gefordert hatte. Da, auf den Feldern bei Frankenhausen, nur etwa 450 Jahre später. Und sie nannten die LPG, die Schule, den Kindergarten nach Thomas Müntzer. Aber auch dieses Weltbild blieb so schrecklich verbesserlich. Es schürte neue Kreaturenfurcht. Und kaum eine staatliche Obrigkeit bekämpfte den Wunsch der Menschen nach innerer wie äußerer Freiheit mit so absurd großer Übermacht wie die Obrigkeiten der DDR, wie einst die Fürstenheere die armen Bauern. Aber nur, bis die mit ihrem neuen Abzeichen kamen, wieder Schwerter, wieder Pflugscharen. Aus manchen Theologen wurden Revolutionäre, noch einmal. Und diesmal, vielleicht nur dies eine Mal in der Geschichte, ging es ohne Gewalt.
Wir hören heute am Tag seiner Beisetzung auch Musik von Christfried Schmidt. Auch er war ein Mystiker, ein sich selbst hinein Geflohener, ein stiller Revolutionär, mit der erstrebenswertesten Unfähigkeit, die sich denken lässt: Der Unfähigkeit zur Anpassung. Einen Text des südamerikanischen Theologen und Revolutionärs Ernesto Cardenal hat er vertont. Auch Cardenal war bekannt und befasst mit aufständischen Bauern und bereit, gewaltsame Mittel zur Durchsetzung ihrer Ziele einzusetzen.
Die Pfade der Geschichte verzweigen sich und sie laufen wieder zusammen. Einen Pfad durch die Felder sollen sie getrampelt haben, die vielen Schaulustigen aus der Mühlhäuser Gegend, die noch einmal den Kopf von Thomas Müntzer auf dem Pfahl sehen wollten. Warum nur gingen sie dorthin, warum sahen sie sich das an?
Weil sie dasselbe wollten wie wir heute Abend. Weil sie nicht vergessen wollten, dass es den anderen Weg gibt, jenseits der ausgetretenen Pfade, einen schmalen und schwer zu gehenden: Den Weg der Freiheit und der Umkehrung der Verhältnisse und der Verbesserung dieser Welt.
Gott jedenfalls hält daran fest, mögen die Menschen sein, wie sie wollen. Eine andere Nachricht haben wir noch nicht erhalten. Wir sehen Regenbogen, am Himmel und als Fahnen, immer noch und immer mehr. Und in uns wächst gerade wieder eine Ahnung davon, wie bedrohlich für die Herrschenden die innere Freiheit von Menschen sein muss, die leben, wie sie leben wollen und lieben, wen sie lieben wollen. Das Zeichen des Regenbogens, die Fahne zerrissen und verbrannt vor 500 Jahren, der Kopf auf dem Pfahl, der Mund geöffnet wie zum Schrei, ein Ruf an uns:
Geh jetzt ins Dunkle: werde selbst das Licht.
Du musst das tun, was keiner kann. Entzweie
Dich von dem toten Leben. Sorge dich nicht.
Wenn du fällst, wachsen die Schreie.
(Volker Braun)