Der Knick

Eine Predigt zu Jesaja 35,3-10 zum 2. Advent

Der Ku‘damm ist ein leuchtender Weg in diesen Tagen. Es handelt sich um die größte zusammenhängende Weihnachtsbeleuchtung Europas. Ehe es richtig dunkel wird, schalten sich die Lichterketten ein. Bevor es still werden kann, läuft an jeder Ecke weihnachtliche Musik. Im Eingang der großen Kaufhäuser muss man die Mütze schnell abnehmen, so warm ist es darin.
Und schnell bist du auch an der Frau vorbei. Gebückt steht sie neben einer Weihnachtsbude. Sie hält keinen Becher mit Glühwein, sondern dir einen Pappbecher hin. Ihre Mütze ist ganz zerfranst, ihr eines Auge mit einem Pflaster verklebt. So steht sie da mit ihren Tüten. Die sind groß und unförmig und es steht nicht KaDeWe drauf und es sind keine Geschenke drin. Irgendwann gehen auch hier die Lichter aus. Dann muss die Frau woanders hin. Wie sich das anfühlt, wie das ist, da wo sie hingeht?

Würde ich stehenbleiben im Strom der Menschen, mich auf den Boden knien, meine Hände auf das Straßenpflaster legen, dann fühlte ich etwas davon. Wie kalt die Steine sind und wie hart. Aber der Strom würde sich wahrscheinlich einfach teilen um mich. All die Menschen würden weitergehen zur nächsten Bude, ins nächste Geschäft, mit ihren Plänen für den Abend und ihrem weichen Bett zuhause oder im Hotel.
Der Ku‘damm ist ein leuchtender Weg in diesen Tagen. Der Ku’damm ist eine Straße aus kalten Steinen.

Wem so etwas auffällt, der ist neu in der großen Stadt oder zu Besuch. Die Frage, wo du die Nacht verbringst, wo du etwas zu essen herbekommst – das ist nicht unsere Frage. Aber die Gegensätze dieser Stadt sind da und jedem vor Augen. Das Sechs-Sterne-Hotel und die Bahnhofsmission am Zoo, das Day Spa mit Treatments aller Art und das Hygienecenter, Designerkleidung und gespendete Wollmützen. Der leuchtende Weg und die kalten Steine.
Die Gegensätze dieser Stadt sind die Gegensätze dieser Welt. Und es ist schwer, damit zurechtzukommen. Die Frau mit dem Pappbecher braucht etwas anderes als mein Kleingeld und mein Mitleid. Ich kann es ihr nicht geben. Ich habe keine Lösung für sie, genauso wenig wie für all die anderen Gegensätze dieser Welt.

Seid getrost, fürchtet euch nicht. Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache, Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen. (Jes 35,3)
Fürchtet euch nicht. Gott kommt zur Rache. Was ist das für ein Satz? Ich höre ihn so: Gott kommt zur Welt. Damit sie nicht so bleibt wie sie ist. Und falls du schon müde geworden bist, schwankend, verzagt, lass es dir sagen: Gott kommt. Und es ist nicht egal, was er vorfindet in unserer Welt. Gott sieht, was wir auch sehen. Der leuchtende Weg durch diese Stadt beginnt an einem riesengroßen Kaufhaus. Aber er endet im Dunkel.
Ja, ich gehe einkaufen gehen am Ku’damm, denn es ist wunderbar, all die Geschäfte direkt vor der Tür zu haben. Aber der Sinn meines Lebens besteht nicht im Einkaufen. Von diesem Strom will ich mich nicht mitreißen lassen.
Ja, die längste zusammenhängende Weihnachtsbeleuchtung Europas ist sehr schön. Und jedes Jahr wird sorgenvoll gefragt, ob im nächsten Jahr am Ku’damm die Lichter ausgehen. Ob es auch im nächsten Jahr noch Sponsoren geben wird, die die halbe Million Euro für die Weihnachtsbeleuchtung zusammenbringen. Ich sage: Eine halbe Million Euro kann man auch für etwas Anderes ausgeben als für Glühbirnen. Es gibt Wichtigeres in dieser Welt. Und es ist nicht das Licht, in dem ich stehen will.

Auf dem leuchtenden Weg die einen, auf den kalten Steinen die anderen. So ist das nun mal, sagen alle, nicht nur am Ku’damm. Ich suche nach einem anderen Weg. Gott kommt und hilft mir. Gott sagt: Wie es ist, so bleibt es nicht.
Blind für die Frau mit dem Pappbecher, taub für das Sprüchlein des Zeitungsverkäufers in der Bahn. Lahm, wenn es um Engagement geht, stumm, wenn es um eine Meinung geht.
Aber wie es ist, so bleibt es nicht. Blinde werden sehen. Taube werden hören. Lahme werden springen. Stumme werden singen. Die Wüste wird zum Fluss. Die Dürre wird zur Quelle.
Die Bäume auf dem Ku’damm werfen ihre Glühbirnen ab, sie schlagen aus und treiben grüne Blätter, quer durch die Stadt, vom KaDeWe bis zum Rathenauplatz, mitten im Winter. Denn dein Herz ist keine Wüste. Du bist nicht gepflastert mit kalten Steinen innendrin. Wirf das alles ab, tu den Sand weg und die Steine. Treib neu aus, mitten in dieser Stadt. Gott kommt und hilft dir.

Und es wird dort eine Bahn sein und ein Weg, der der heilige Weg heißen wird, die Erlösten werden dort gehen. Am Ku’damm, Ecke Tauentzien macht die Straße einen Knick. Genau dort steht die Gedächtniskirche. Jederm der hinschaut, sieht den Knick and der Ampel zur Rankestraße. Seht auf und erhebt eure Häupter, weil sich eure Erlösung naht.
Gott macht einen Knick in die Wege der Welt. Wie es ist, so bleibt es nicht. Daran glauben Menschen, schon lange vor uns. Auch sie wurden müde dabei, schwankend, verzagt. Und hörten: Seid getrost. Fürchtet euch nicht. Wie es ist, so bleibt es nicht.
An diesem Knick in den Wegen der Welt ist Gott zu erkennen. An dem, was anders ist, als das, was wir kennen. Angefangen hat es mit seiner besonderen Liebe zum Volk Israel, dem kleinsten unter allen Völkern. Entlaufene Sklaven und kleine Leute, denen Gott den Weg durch die Wüste gezeigt hat.
Und Gottes Geschichte mit den Menschen ging weiter. Mit einer kleinen Familie unterwegs, dem Stern über einem Stall, ohne Glühbirnen, ohne Bett. Ein Neugeborenes im Stroh, Jesus, Gottes Sohn. Später reitet er die Prachtstraße entlang in die Stadt, als König. Aber er sitzt auf einem Esel dabei. Jesus ist gut Freund mit allerlei Nachtgestalten. Er ist bei den Armen, den Verrückten, den Kranken, den Kindern. Gestorben ist er draußen vor der Stadt, da, wo sich die Wege im Nichts verlieren. Jesus ist die Straße mit den kalten Steinen bis zum Ende gegangen, damit dort keiner alleine ist. Ein Knick in den Wegen der Welt.

Am Ku’damm, Ecke Tauentzien ist dieser Knick. Da steht eine Kirche, die Gedächtniskirche. Sie sieht selbst geknickt aus mit ihrem abgebrochenen Turm. Sie hat auch einen Riss zu ihren Füßen, in Erinnerung an das Attentat auf dem Breitscheidplatz. Diese Kirche ist für mich eine Haltestelle der Hoffnung. Ich brauche sie. Hier werde ich gestärkt und fest gemacht. Hier werde ich getröstet. Diese Kirche ist offen für dich, ob du vom leuchtenden Weg kommst oder von den kalten Steinen.

Und wenn wir wieder vor die Tür treten, dann sehen wir auf.
Wir sehen: Der Weg ist noch weit.
Aber es gibt eine andere Richtung in dieser Welt.
Und uns leuchtet ein anderer Stern.

Amen.

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