Die harte Rede

Eine Predigt zu Joh 6,55-66 am 26. März 2017 in Coburg

Da saß er wieder, oben auf der Burg, bei den Dohlen. Wieder war er heimlich gereist, wieder hatten sie ihn verstecken müssen. Der Blick aus dem Fenster, das Krächzen der schwarzen Vögel, die Bäume. Bald würden sie wieder so grün sein wie damals im Mai. Er war jetzt ja nur auf der anderen Seite des gleichen Waldes. Aber natürlich war es unmöglich, die andere Burg von hier aus zu sehen. Und ein Narr, wer das versuchen wollte. Dazu noch die Augen schlechter als damals. Auf dem Tisch lag schon die Brille.
So wenig Zeit vergangen, eigentlich. Und so viel geschehen. „Aber mir werden sie keine Ehefrau aufdringen“ hatte er von der anderen Burg noch ganz selbstsicher geschrieben. Nun lag neben der Brille Katharinas Brief. Und an der Wand hing das Bild seiner kleinen Tochter; sein geliebtes Lenchen.
Es war weitergegangen mit der Reformation, viel weiter, als er es sich damals auf der anderen Burg ausmalen konnte. An wem wäre das besser zu sehen als an ihm selbst? Und doch saß er jetzt wieder oben, im Königreich der Dohlen. Der Blick durch die kleinen Fensterscheiben auf den Wald war der gleiche wie damals. Und die Ungewissheit dieselbe.

Nach Coburg musste Martin Luther im Frühjahr 1530 kommen, an den südlichsten Rand Kursachsens. Für den immer noch Vogelfreien ging es nicht weiter als bis hierher und dann hinauf auf die Burg zu den Vögeln, ins Königreich der Dohlen. Die Verhandlungen auf dem Reichstag in Augsburg würden Monate dauern. Ihr Ausgang war ungewiss. Nach Coburg sind wir gekommen, an den nördlichsten Rand Bayerns. In sicherem Geleit wahrscheinlich, herzlich willkommen und festlich empfangen in dieser schönen Stadt. Es ist weiter gegangen mit der Reformation, fünfhundert Jahre weiter. Aber die Ungewissheit bleibt. Wie wird es weitergehen, mit der Reformation, mit der Kirche?

Blickt man von dieser Seite des Waldes in das Land, aus dem ich hierher gereist bin, von dieser Burg hinüber zu der anderen Burg, der Wartburg bei Eisenach, dann sind wohl noch die Kirchtürme zu sehen überall im Land. Aber Gottesdienst wird dort nur noch alle vier Wochen gefeiert oder alle sechs oder alle acht. In Wittenberg, der Lutherstadt, gehören nur gut 12% der Einwohner einer Kirche an. Meine Kinder sind im Osten Deutschlands großgeworden. Sie haben noch nie nach evangelisch oder katholisch gefragt. Wenn wir anderen Menschen begegnen, fragen sie mich: „Sind die auch christlich?“ Normal ist „christlich“ nämlich nicht. „Christlich“ ist die Ausnahme. Von 28 Kindern in der 8. Klasse des Gymnasiums gehen drei zur Konfirmation. Zwei davon sind aus dem Westen zugezogen. Im Mai ein einziger Konfirmationsgottesdienst mit 16 Konfirmandinnen und Konfirmanden in einer Stadt mit knapp 50 000 Einwohnern. So sieht es gegenwärtig aus im Land der Reformation.

Ich blicke von dieser Burg zu der anderen Burg. Ich lebe in einem Land, in dem Christen eine Minderheit sind. Das ist wohl nicht die Art von Konzentration, über die Sie, die bayrischen Landesynodalen, nachdenken wollen. Oder wie Sie sich das Profil der Kirche nach 500 Jahren Reformation vorstellen. Wo denken wir eigentlich darüber nach? Oben, im Königreich der Kirchendohlen, die alle gerne schwarz tragen? Im Kontakt mit der Welt da unten sind solche Dohlen oft durch Perspektiv- oder Impulspapiere. Deren wohlgesetzte Worte versuchen zu verbergen, was Martin Luther in seinen Briefen unfreiwillig offenbaren musste, als er sie mit Tinte auf Papier schrieb: Dass wir solche Papiere eilig schreiben, mit aufkommender Angst und uns manchmal die Hände zittern bei dem Gedanken daran, wie es weitergehen soll. Profil und Konzentration. Wir halten Ausschau nach der Zukunft unserer Kirche. Und unsere Augen reichen nur bis dahin, wo alles im Dunst am Horizont verschwimmt. Wie soll es weitergehen? Diese Frage ist alt, viel älter noch als die Veste Coburg oder die Wartburg. Aber im Gegensatz zu diesen ehrwürdigen Burgen wird sie nie zerfallen. Nichts kann diese Frage ruinieren. Sie hat ein sehr sicheres Fundament. Das hatte sie schon immer, falls das ein Trost ist.
Viele nun seiner Jünger, die das hörten, sprachen: Das ist eine harte Rede, wer kann sie hören?“ Wie wird es weitergehen mit ihnen, die mit Jesus gehen? Das fragen sie sich schon die ganze Zeit. Denn am Anfang ihrer Begegnung mit Jesus waren sie sich sicher: Wir haben den Messias gefunden. Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben (Joh 1, 41.45). Typische Anfangsgedanken sind das. Auch über Martin Luther haben sie am Anfang so gedacht. Der neue Moses aus Wittenberg.

Und die ersten Zeichen und Wunder waren sehr ermutigend. Gewöhnliches Wasser wird zu sehr viel sehr gutem Wein. Gewöhnliche Menschen sollen wie Päpste und Bischöfe sein. Menschen werden geheilt. Nonnen entfliehen dem Kloster. Jesus geht auf dem Wasser. Martin Luther hält dem Kaiser stand. Von fünf Broten für fünftausend Menschen bleiben am Ende noch zwölf Körbe übrig. Die neue Lehre aus Wittenberg verbreitet sich in ganz Europa.
Zuerst ist es leicht, das Volk zu begeistern. Aber kaum ist das viele Brot aufgegessen, haben die Leute so ihre Fragen. Jesus kann sie nicht recht oder jedenfalls nicht in ihrem Sinne beantworten. Schnell zerstreut sich die große Menge wieder. Die Reformation kommt ins Stocken. Und Martin Luther findet sich oben bei den Dohlen wieder.

Es bleibt eine kleine Versammlung zurück. Nach den großen Anfängen ist das häufig so. Mit Jesus war es so. Aber anstatt diese wenigen nun einzuschwören auf seine Sache, wenigstens ihnen klar zu sagen, wie es jetzt weitergehen wird, bekommen sie seltsame und abstoßende Dinge von Jesus zu hören.
„Denn mein Fleisch ist die wahre Speise und mein Blut ist der wahre Trank“ sagt Jesus, „wer mein Fleisch isst und trinkt mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Angewidert sehen sie sich an. Dass einer wie Brot sein will und Hunger aller Art stillen, das kann man ja noch verstehen. Aber Fleisch und Blut essen und trinken? Einige gehen schon kopfschüttelnd. Doch ein Verrückter.
Die übrigen ahnen langsam, wo der Weg hingeht. Schon ganz am Anfang spüren sie: Das hier ist doch anders, als wir zuerst dachten. Es hört sich nicht so an, als würde dies eine Erfolgsgeschichte, diese Sache mit Jesus. Ganz am Anfang seines Weges redet Jesus schon von Fleisch und Blut. Keiner weiß jetzt schon, wie nackt und blutig sein Weg enden wird. Aber die sich kopfschüttelnd abwenden, nehmen nur vorweg, was später sein wird: Das große Kopfschütteln der Welt vor diesem Gott aus Fleisch und Blut. Jesus geht den Weg bis zum bittersten Ende. Er wird am Rand der Stadt enden, geschlagen und gekreuzigt, nackt und blutig. Und Gott war in diesem Menschen. Und die Welt schüttelt den Kopf. Zuerst das Volk, die große Menge. Aber dann sogar seine Jünger.
„Von da an wandten sich viele seiner Jünber ab und gingen hinfort nicht mehr mit ihm“. (Joh 6,66)

Auch das ist eine harte Rede. Und ich habe es gelernt, sie zu hören. Ich lebe nun schon viele Jahre im Osten Deutschlands, im Land der leeren Kirchen und der kleinen Zahlen. Ich habe mich anfangs erschrocken darüber, wie leicht es offenbar gewesen ist, viele Menschen von der Kirche abzubringen. Denn ich hatte keine Vorstellung davon, was es bedeutet, wenn ein Staat auf dem Rücken von Kindern und Jugendlichen gegen die Kirche kämpft. So viele Geschichten habe ich gehört: „Meine Eltern haben mich von der Christenlehre abgemeldet, damit ich später studieren kann“. „Ich durfte kein Abitur machen, weil ich zum Konfirmandenunterricht gegangen bin“. Ich weiß ich nicht, was ich getan hätte, wenn es um mich gegangen wäre oder um meine Kinder. Und dann habe ich mich noch einmal erschrocken, als ich gemerkt habe, dass auch nach dem Ende dieses Staates kein Hunger nach Gott über das Land gekommen ist. Die Kirchen blieben leer, die Zahlen klein.

Aber irgendwann hatte ich keine Angst mehr. Denn da habe ich gemerkt, dass es die Kirche trotz allem gibt. Anders, als ich Westdeutsche sie kannte. Weniger Kaffee und Kuchen und Ausflüge und Sport und Basteln im Gemeindehaus. Mehr Gottesdienst, Christenlehre, Bibelwoche, Friedensgebete. Und schon zweimal habe ich erlebt, wie es ist, wenn man neu in eine Stadt kommt und aufgenommen wird in der Gemeinschaft der Christen. Ohne Ansehen der Person, freundlich und auch mit ganz praktischer Hilfe. Wir kamen nach Ostdeutschland. Aber nirgends waren wir fremd. Denn überall waren ja Christen. Unsere Schwestern und Brüder. „Wir sind christlich“. Mit diesem Gefühl sind meine Kinder jetzt großgeworden. Und ich hätte sie im Westen Deutschlands nicht auf diese Weise christlich erziehen können. Das ist meine Erfahrung von Profil und Konzentration.

Wie soll es weitergehen? Wir denken in diesem Jahr verschärft an Martin Luther. Er hat eine Reformation angestoßen. Und wir spüren trotz all der Bemühungen um eine zeitgemäße Interpretation dieses Ereignisses: Es ist lange her. Es ist viel Zeit vergangen. Die Gestalt der Kirche hat sich verändert. 500 Jahre nach der Reformation verändert sie sich weiter. Und es geht uns wie Martin Luther damals auf der Veste Coburg. Ungewissheit begleitet uns. Aber es gibt nicht nur die eine Reformation. Es ist das Wesen einer reformatorischen Kirche, dass sie sich weiter verändert. „Die christliche Kirche ist keine Volkskirche mehr“, steht in dem Papier, das Sie auf der Synode beraten werden. So einen Satz schreibt man nicht selbstsicher. Mit ruhiger oder mit zitternder Hand schreibt man ihn. Und mit ruhigem oder mit klopfendem Herzen wird er gelesen.

Lesen Sie das mit ruhigem Herzen. Es gibt keinen Grund für aufkommende Angst. Schon ganz am Anfang, damals, als das Wort gerade Fleisch geworden war (Joh 1,14) in Jesus aus Nazareth, liefen sie ihm erst nach. Und dann, als sie hörten, worum es wirklich ging, um einen Gott aus Fleisch und Blut, um Liebe und Hingabe, wandten sich wieder ab. Und nach seinem Tod liefen sie auseinander und nur ein paar – Argumenten wieder einmal nicht zugängliche – Frauen gingen doch noch einmal nachsehen, was mit dem toten Jesus geworden war.

Und auch danach waren sie trotzdem noch wenige. Eigentlich waren wir immer wenige. Wo die vielen sind, wo die Macht ist – oder nennen wir es Einfluss oder eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – wo Geld und Besitz sind, da gehören wir eigentlich nicht hin. Auch nicht nach oben, in unser selbstgemachtes Königreich der Kirchendohlen. Wir gehören ins Tal, in die Stadt, mitten in die Welt. Auch das ist eine harte Rede. Ich muss sie hören, gerade ich, als gut bezahlte Pfarrerin ohne Zukunftssorgen im schönen schwarzen Talar der Kirchendohlen. Auch an mir, an uns wird zu sehen sein, was sich verändert. Ich denke an Martin Luther auf seinen Burgen. An den Brief von Katharina und das Bild von Lenchen. Er konnte von der einen Burg nicht in die Zukunft sehen und von der anderen auch nicht. Aber was sich schon verändert hatte, an ihm selbst, das hat ihn glücklich gemacht.

Wie soll es weitergehen mit uns? Eine Volkskirche werden wir nicht bleiben können. Die große Menge hat sich längst zerstreut. Wir werden wenige sein. Wir werden eine Jüngerkirche werden.

„Nehmt ihr daran Anstoß?“ fragt uns Jesus.
Nein, sage ich. Wir bleiben bei dir.
Wohin sollen wir sonst gehen?
Du hast Worte des ewigen Lebens. (Joh, 6, 68).

Amen.

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