Die Würde der leicht überschrittenen Mitte

Death with dignity – „Tod mit Würde“ oder, etwas freier übersetzt „in Würde sterben“, das war der erste Titel, den wir heute abend gehört haben. Heute am letzten InSpirit-Abend, wird es nochmal tiefgründig. Die Inspirit-Saison geht für dieses Jahr zu Ende. Und dazu passt der Ton, der in vielen Eurer Stücke durchklingt. Es geht um Abschied, um Vergänglichkeit. Und auch von wunderschönen Stimmen gesungen und zart mit dem Vibraphon arrangiert, bleibt das zu spüren. Es ist nicht direkt Trauer, diese ernste, schwarze Dame, die mir da begegnet. Ich treffe in Eurer Musik eher ihre freundlicheren kleinen Schwestern, diese kleinen Mädchen mit den ernsten Gesichtern, die Wehmut und die Melancholie.

Für mich passt das perfekt zu diesem letzten Abend und auch perfekt zur Jahreszeit und zu mir selbst. Gestern erst bin ich aus einem kleinen, recht spontanen Urlaub zurückgekommen. Das war noch einmal Unterwegssein im Sommer, freie Zeit genießen. Und dann abends draußen sitzen und merken: Hui, es wird aber doch schon recht früh wieder dunkel. Die lästigen Gedanken daran, dass es schon bald abends noch viel früher dunkel sein wird, die konnte ich noch verscheuchen, so wie man eine lästige Mücke verscheucht, bevor sie sich nieder-lässt und es wehtut. Aber einen kleinen Stich gibt es mir doch. Morgen ist wieder Büro, nächste Woche ist wieder Schule. Ich habe so einen hübschen Block, wo ich meine ToDo-Liste draufschreibe und auf dem ist immerhin ein Strandzugang zu sehen, gar nicht so unähnlich dem, an dem ich gerade erst war. Aber nächste Woche habe ich dann keinen Sand mehr zwischen den Zehen, sondern wahrscheinlich bloß eine noch längere ToDo-Liste, das weiß ich ziemlich sicher.

Morgen ist schon der erste September. Und ich habe beschlossen und ich fange heute Abend damit an, mich mit den kleinen Schwestern Wehmut und Melancholie anzufreunden. Wir ziehen uns alle T-Shirts an, auf denen steht ein Satz aus der Bibel, einer der kürzesten und wahrsten: Alles hat seine Zeit. Oder meinetwegen auch Death with Dignity. Denn es geht darum, wie man mit Würde erträgt, das alles seine Zeit hat. Ich tröste mich mit dem Gedanken: Jetzt kommt noch nicht gleich der Herbst und dann der Winter, sondern jetzt kommt erstmal der September. Er ist, wenn man dem Autor Max Goldt glaubt, der „König der Monate“. Er hat Würde, die „Würde der leicht überschrittenen Mitte“. Ich habe Max Goldt für Formulierungen wie diese schon geliebt, als ich selbst noch weit von der Mitte des Lebens entfernt war. Nun, da seine Beobachtung und meine Erfahrung zusammengefunden haben, fühle ich mich bestätigt. Und mir hilft auch, dass der September schon immer mein Lieblingsmonat war. Dieses besondere, immer leicht verschleierte Licht. Tage, die noch warm sind, aber nicht mehr heiß. Abgeerntete Felder und reifes Obst. Ein bisschen wehmütig, leicht melancholisch, aber nicht die novembergraue Variante, sondern so, dass man sich das Herz daran wärmen kann. Die beiden kleinen Schwestern der Trauer, die können noch draußen spielen. Und bald ist schon Erntedank.

Im September bin ich irgendwie im Einklang damit, dass alles seine Zeit hat, pflanzen und ausreißen, was gepflanzt ist, abbrechen und bauen, weinen und lachen, klagen und tanzen, schweigen und reden. Auch geboren werden und sterben. Dieses große Pendel des Lebens, wie es im Buch des Predigers in der Bibel beschrieben ist, kommt im September für einen Moment zur Ruhe. Jetzt ist die herbstliche Tag- und Nachtgleiche, jetzt sind die Tage genau so lang wie die Nächte. Statt ängstlich auf die Abwärtsbewegung des Jahres und gleich meines ganzen Lebens zu warten, feiere ich in den nächsten Wochen die Schönheit und die Würde der leicht überschrittenen Mitte. Das ist eine gute Zeit, um eine kleine Jahres- und meinetwegen auch Lebensbilanz zu ziehen, ohne gleich in die vielzitierte fette Midlife-Crisis zu geraten. Die ruhige, fließende Schönheit der Septembertage lässt mich unaufgeregter zurückschauen: Was war leicht, was war schwer? Was konnte ich hinter mir lassen, woran trage ich noch? Zur besonderen Würde dieser Jahres- und Lebenszeit gehört Ehrlichkeit. Dass ich mir eingestehen kann: Es war nicht alles gut. Von diesem Gedanken angestoßen, bewegt sich das Pendel aber gleich in die andere Richtung: Es war doch vieles gut. Und zur leicht überschrittenen Mitte gehören auf jeden Fall schon die ersten Früchte. Wenn die Zeit des Pflanzens auch definitiv vorbei ist: Jetzt beginnt die Zeit der Ernte. So will ich in die nächsten Wochen und Monate gehen, an diesem letzten Abend im August, Wehmut und Melancholie feiern ihn mit mir.

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