Unterwegs in Berlin. Die Straße kenne ich nicht. Einer der vielen noch nicht gegangenen Wege in der großen Stadt. Aber die Granitplatten zu meinen Füßen machen den unbekannten Weg vertraut. Einen Meter breit jede Platte, dazu Kleinpflaster an beiden Seiten, je nach Breite des Gehwegs. Großstadtsteine, die gibt es nur hier. Vertrautes Pflaster.
Dann zur Linken eine Mauer, darin ein Durchgang. Rasen und Bäume, wieder Granitplatten. Die liegen mir nicht zu Füßen. Sie stehen aufrecht und Namen stehen darauf. Grün statt grau, Ruhe statt Lärm. Ein Friedhof, der ein Garten geworden ist, inmitten der Stadt, ein Ort für die Toten, ein Ort für die Lebenden.
Ich bleibe ein paar Minuten, lese die Namen, vergleiche die beiden Daten, berechne die Spanne dazwischen. Manche sehr kurz, andere lang. Darauf kommt es nicht mehr an. Längst ist ja Gras gewachsen darüber, das Weinen verstummt, die Tränen getrocknet. Ist ja auch schon lange her. Ich drehe mich um und will wieder gehen.
Da sehe ich sie:
Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie nun weinte, beugte sie sich in das Grab hinein.
Und sie sieht zwei Engel sitzen in weißen Gewändern, einen zu Häupten und einen zu Füssen, dort, wo der Leib Jesu gelegen hatte.
Und sie sagen zu ihr: Frau, was weinst du? Sie sagt zu ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen, und ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben.
Ist noch gar nicht lange her. Es ist früh am Morgen. Sie war wach vor den anderen, hatte das Nötigste an Kleidung übergestreift und war losgegangen. Maria Magdalena macht sich auf den Weg. Bloß raus hier. Sie will alleine sein, weg von allem, was dumpf und traurig ist.
Über die Steine der Stadt geht sie, bis zu der Mauer und dem Durchgang darin und dem Garten dahinter. Wenigstens frische Luft atmen und das Gras und den Tau an den Füßen spüren. Das wird ihr guttun. Und sie kann ungestört weinen, dort an dem Grab mit dem Stein davor.
Über die Steine der Stadt geht Maria Magdalena, in einen Garten, der ein Friedhof geworden ist. Vertrautes Pflaster, dieser Weg. Denn so geht Trauer. Noch einmal hingehen, immer wieder hin-gehen zu dem Ort. „Hier“ wurde etwas verloren, „hier“. Man deutet darauf, steht auf der Stelle, sucht sie ab, wartet dort, denn wenn überhaupt, wird sich hier etwas wenden.
Es muss doch besser werden. Die Zeit heilt doch alle Wunden. Der Tag muss doch kommen, an dem dir nicht gleich die Tränen kommen da am Stein. Das ist bei allen so. Manche sehr kurz, andere länger, so ist es eben. Es wächst Gras drüber, auch über diesen aufgewühlten Haufen Erde und das schwarze Loch in deinem Herzen. Aus dem Friedhof wird ein Garten mit der Zeit. Hier, am Stein, da wirst du es zuerst merken. Das hoffst du und deswegen gehst du immer wieder dort-hin.
Die Platte, der Stein, das Grab, der Name und der Ort. Das ist ein Trost für alle, die jemanden verloren haben. Es war aber an der Stätte, wo er gekreuzigt wurde, ein Garten und im Garten ein neues Grab, in das noch nie jemand gelegt worden war. Dahin legten sie Jesus.
Auch dieses Grab hat einer kaufen müssen. Der hieß Josef von Arimathäa. Sogar sein Name ist über die Zeit geblieben. So geht Trauer. Sie braucht einen Ort. Eine Platte, einen Stein, um den das Gras wachsen kann mit der Zeit. Wo gleich ein Rasen ist und die ausgestochenen Kanten für die Urne verschwunden nach dem ersten Regen, da verliert sich das Verlorene noch einmal. Dort kannst du nur weinen und weinen. Um das Verlorene und darum, dass du es auch noch verloren hast. Und die Trauer wird namenlos. Ich weiß nicht, wo sie ihn hingelegt haben. Wir wissen nicht, wo sie sind, unsere Toten. Aber wir wissen, wo wir sie hingelegt haben. So gehen sie uns in aller Verlorenheit nicht ganz verloren. Ein Trost, nicht mit Geld zu bezahlen.
Diesen Trost sucht Maria Magdalena an diesem Morgen in diesem Garten. Was sie findet – dass sie Jesus nicht finden kann – macht ihren Schmerz noch größer und ihre Trauer noch tiefer. Sie weint und weint.
Was weinst du? Eine genaue Frage bekommt sie dort gestellt, im Garten am Grab. Was meinst du, wenn du weinst, Maria Magdalena? Weinst du um ihn, um dich, um euch, um den Moment, um die Zeit, das Gestern, das Heute, das Morgen?
Weinen, das sind viele verschiedene Tränen. Sie holen sich ein auf deinem Gesicht, sie laufen in-einander, sie lassen verschwimmen, was du sowieso nicht auseinanderhalten kannst. Mit den Augen voller Tränen spürst du:
Es ist das Weinen, das sehend macht. Das Weinen, das unser Niedergehaltenes aufrichtet, Zurück-gewiesenes wieder herbeilässt, im Weinen erst sieht.
So geht Trauer. Als ob einer kommt und dich fragt Was weinst du? und dann kommt es raus, aus den Tiefen des Herzens. Du hattest ja gelernt, sie gut zu verschließen. Aber mit den Tränen löst sich alles. Was ich so gerne tun wollte und nie getan habe. Was ich hätte sagen wollen und nie gesagt habe. Was ich so gut kannte und doch nie richtig erkannt habe, erst jetzt. Was ich immer noch zu Ende bringen wollte und was jetzt zu Ende ist. Was ich vermissen werde und was nie mehr wiederkommt. Das weine ich.
Das sagte sie und wandte sich um, und sie sieht Jesus dastehen, weiß aber nicht, dass es Jesus ist. Jesus sagt zu ihr: Frau, was weinst du? Wen suchst du? Da sie meint, es sei der Gärtner, sagt sie zu ihm: Herr, wenn du ihn weggetragen hast, sag mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich will ihn holen.
Ein Garten, der ein Friedhof geworden ist. Maria Magdalena wendet sich irgendwann wieder ab vom Grab. So geht Trauer. Man kann ja nicht am Grab bleiben und die Tränen versiegen irgend-wann doch. Dann geht es wieder in den Alltag zurück und der begegnet auch Maria Magdalena.
Denn das kann ja nur der Gärtner sein, der hier nach dem Rechten sieht. Vielleicht weiß er ja, wo der Verlorene ist, dann kann man den noch einmal ins Grab legen, diesmal endgültig, den Stein davor und weggehen mit dem schwarzen Loch im Herzen. So geht Trauer doch. Das Leben muss ja weitergehen. Maria Magdalena ist schon vorbei an diesem Gärtner, sie will hinaus auf die Straße, zurück in die Stadt. Da dreht sich der Gärtner um und
Jesus sagt zu ihr: Maria!
Da wendet sie sich um und sagt auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni! Das heißt ‹Meister›.
In diesem Augenblick ist es wie ganz am Anfang, so wie in dem ersten Garten. Da schläft ein Mann und steht auf und sieht die Frau, sein Gegenüber, endlich. Die Welt ist komplett, mit zwei Menschen, beide aufgehoben im Blick des anderen. Ein Friedhof, der wieder ein Garten wird in diesem Augenblick, wie der erste Garten, wo der Tod noch nicht war. Nur die beiden Menschen, nur zwei Namen. Adam und Eva. Maria Magdalena und Jesus von Nazareth. Manchmal gibt es das im Leben, dass du einem Menschen so begegnest. Nur zwei Namen, du und ich. Dann beginnt das Leben und der Tod ist nicht da für einen Augenblick.
Maria Magdalena und Jesus von Nazareth. In den Augen dieser Frau kommt er zur Welt, als Auferstandener jetzt. Er ist nicht mehr der dunkle Gott, der sich nicht zu erkennen gibt, der fremd vor ihr, dann abgewandt von ihr stand. Gott wandelt sich durch unser Suchen nach ihm.
Da steht sie im Garten, verweint und überglücklich, und Jesus steht ihr gegenüber. Verrückt war sie ja schon immer, Maria Magdalena, nach allem, was wir von ihr wissen. Maßlos in ihrer Liebe, maßlos in ihrer Traurigkeit, maßlos in ihrer Hoffnung. Sie geht zum Grab, immer wieder, sie weint und weint, sie sucht und sucht. Und ihr geschieht, was wir hoffen. Dass wir einander wieder begegnen, uns erkennen, den Namen sagen können, den wir nicht mehr sagen konnten. Und dass Gott anders wird, nicht mehr so fremd und so fern. Dass wir ihn erkennen können. Dass aus unserem ganzen Suchen ein Finden wird. Dass der Tod nicht mehr da ist. Verrückt musst du sein, wenn du das glaubst, verrückt vor Liebe, vor Traurigkeit, vor Hoffnung. Denn
Jesus sagt zu ihr: Fass mich nicht an! Denn noch bin ich nicht hinaufgegangen zum Vater. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.
Auch Maria Magdalena kann ihn nicht festhalten. Auch sie muss gehen, weg vom Grab und aus dem Garten. Ich habe den Herrn gesehen. Mit diesem Augenblick im Herzen geht sie, durch die Mauer mit dem Durchgang darin, hinaus auf die Straße, zurück in die Stadt. Vertrautes Pflaster. Ein neuer Weg.
Ich geh ihr hinterher.
Amen.
Anmerkungen:
Nicht biblische Zitate aus:
Patrick Roth, Magdalena am Grab (Insel-Bücherei Nr. 1234), Frankfurt 62012.