Ein ganzes Leben leben

Ob sie eigentlich jemals Sehnsucht gehabt hat nach der Stille zwischen den Mauern des Klosters? Nach der Ordnung ihrer Tage zwischen Beten und Arbeiten und nach dem Schweigen?
Bei der Geschichte von Maria und Marta denke ich an eine Frau, die ich in Wittenberg ziemlich gut kennen gelernt habe. Katharina von Bora, die Frau Martin Luthers. Sie kannte nichts anderes als das Leben im Kloster. Schon als kleines Mädchen wurde sie dorthin gegeben. Katharina lernte dort neben Lesen und Schreiben auch Haus- und Landwirtschaft. 1515 legte sie ihre ewigen Gelübde ab. Keine Entscheidung aus eigenem Antrieb, sondern ein vorgezeichneter Weg. Ein Lebensentwurf, der ohne Umwege in den Himmel führen sollte.

Katharina hatte ihr ganzes Leben im Kloster verbracht. Sie kannte kein anderes Leben. Aber sie hatte trotzdem Sehnsucht danach. Die Ideen Martin Luthers dringen durch die Klostermauern bis zu ihr. An Ostern 1523 schickt Luther selbst einen Vertrauten mit einem Fuhrwerk zu dem Kloster nach Nimbschen. Der holt zwölf Nonnen ab und fährt sie nach Wittenberg. Und aus der Nonne Katharina von Bora wird eine Ehefrau und Mutter von sechs Kindern.

Wir machen uns Bilder von Katharina. Wir kennen ihre sagenumwobene Tüchtigkeit, auch Geschäftstüchtigkeit. Ihr Verständnis für ihren Mann, dem stets überarbeiteten Doktor Martinus. Sie hält ihm den Rücken frei und regelt die Widrigkeiten des Alltags geräuschlos für ihn. Sie willigt ein, die Frau an seiner Seite zu sein und darin ihre Erfüllung zu finden. Wir machen uns eigene Bilder. Und ich frage mich: Hatte Katharina im Schwarzen Kloster in Wittenberg, in ihrem neuen Leben eigentlich manchmal Sehnsucht nach der Stille in dem Kloster, aus dem sie kam?
„Ich will das ganze Leben leben“. Diesen Satz bekommt sie in einem Film in den Mund gelegt. Katharina von Bora hatte ein Leben. Und dann kam ein anderes, höchst bemerkenswertes, bis heute unvergessenes. Aber sind zwei Hälften schon ein ganzes Leben? Und hört die Sehnsucht nach dem anderen Leben irgendwann auf?

Die Geschichte von Maria und Martha hat Katharina ins Kloster gebracht. Über Jahrhunderte wurde sie als Geschichte von zwei Schwestern gelesen, die zwei gegensätzliche Leben leben. Marta steht dabei für das Leben in der Welt mit dem Alltag und seinen täglichen Herausforderungen. Maria steht für ein Leben in der Abwendung von der Welt und ihren Notwendigkeiten, für ein ganz auf Gott gerichtetes Leben. Und das kann man am besten hinter den Mauern eines Klosters führen, in Armut, Keuschheit und Gehorsam, in der Stille und Ordnung der Tage zwischen Arbeit und Gebet. Und viele Jahrhunderte lang es schien klar zu sein, welcher Weg der bessere ist. Denn wenn Jesus schon sagt, dass Maria das gute Teil erwählt hat, dann muss es doch wohl das bessere sein. Zwei Schwestern und zwei Leben.

„Ich will das ganze Leben leben“. Das war Katharinas Satz. Aber das ist auch schon Martas Satz. „Herr, fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester allein lässt dienen?“ Marta ist nicht zufrieden. An ihrer Schwester Maria sieht sie, dass es auch etwas Anderes gibt als Sorge und Mühe des Alltags. Ungeteilte Aufmerksamkeit für den Gast. So zuhören, als sei alles andere völlig unwichtig. Jesus zu Füßen liegen.

Davon, wie es Maria geht, erzählt die Geschichte nichts. Ob sie auch etwas vermisst? Das gute Gefühl, genau zu wissen, was zu tun ist und kräftig anzupacken, zum Beispiel. Die anerkennenden Blicke für die eigene Tüchtigkeit und die Dankbarkeit im Gesicht des Gastes. Jesus war doch bestimmt auch hungrig und durstig. Zwei Schwestern und zwei Leben. Und immer die Sehnsucht nach dem anderen Leben.

Diese Geschichte hat Katharina ins Kloster gebracht. Und wieder heraus. Sie war eine Maria und sie wurde eine Marta. Und in den Jahrhunderten danach haben wir uns Bilder von ihr gemacht, von der starken Frau an der Seite des großen Reformators. Das Schwarze Kloster als Ort professioneller Gastfreundschaft mit Unterkunft und Vollverpflegung. Die Gäste, die Studenten, die Dienstboten, dazwischen die Kinder und der Mann. Der darf natürlich nicht gestört werden. Aber sie muss alles aushalten. Besuch, Gespräche, Kindergeschrei und abends noch die Tischreden. Ich sehe sie manchmal in der Küche stehen und denken: Wenn es doch endlich einmal still wäre. Und trotzdem: Sie will hier sein und nirgendwo anders.

Und dann ist sie meine Schwester. Dann sind wir alle Schwestern, Maria und Martha und Katharina und Kathrin. Wir wollen alle das ganze Leben leben. Wir wollen Stille und Lärm. Wir wollen alleine sein und mit anderen. Ich bin ihre Schwester, die abends am Schreibtisch sitzt, um noch eine Predigt fertig zu schreiben, diese zum Beispiel. Und dann die dann denkt, dass das mit dem Kloster eigentlich gar keine schlechte Idee wäre, denn da wäre es still und ich hätte meine Ruhe und wäre sicher schon längst fertig gewesen.
Aber das denke ich meistens nicht sehr lange. Ich will ja so leben, trotz allem. Ich will Kinderlärm und die stille Stunde am Schreibtisch. Ich will mir alleine Gedanken machen und jemanden haben, der mir zuhört. Denn das ist mein Leben. Und es fühlt sich wie ein ganzes Leben an.

Maria und Marta sind Schwestern. Manchmal geht es gut mit ihnen und manchmal geraten sie aneinander. Jesus wendet sich ihnen beiden zu. Er genießt die Aufmerksamkeit Marias. Ihm schmeckt das Essen, für das Marta sorgt. Er will nicht die eine gegen die andere Schwester ausspielen. Und er zeigt Marta, dass man ein ganzes Leben leben kann. Wenn man erkennt, wann das eine dran ist und wann das andere. Die Liebe hat das stille Gesicht Marias, die nichts anderes tut als Jesus zuzuhören. Die Liebe hat die rauen Hände Martas. Zur gleichen Zeit.

Ich will ein ganzes Leben leben. Wir haben nur ein Leben. Und das ist ein Haus, in dem sie beide wohnen, Maria und Marta. Da ist es still ist und laut und der Tisch ist schön gedeckt und der Abwasch ist nicht gemacht. Jesus kommt zu Besuch. Und dann ist alles bereit..

Amen.

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