Eine Herde
Predigt zu Johannes 10, 11-18 am 4. Mai 2025
Wie grün war es in Berlin vor 80 Jahren Anfang Mai? Haben die Kastanien damals auch geblüht, gab es noch irgendwo Flieder, sangen noch Nachtigallen in den Hinterhöfen und dem, was von den Parks übrig geblieben war? Vor 80 Jahren war diese Woche die letzte des sogenannten „Dritten Reichs“. 1000 Jahre hätte es dauern sollen. Nach etwas mehr als zwölf Jahren ging es unter. Am 30. April 1945 hatte sich Adolf Hitler im Führerbunker in der Voßstraße in Mitte umgebracht. Zwei Tage später wurde im Schulenburgring in Tempelhof, wo sich die Kommandozentrale der sowjetischen Militärführung einquartiert hatte, die Kapitulation Berlins unterzeichnet. Und sechs Tage später, am 8. Mai 1945, wurde dann die Kapitulation Gesamtdeutschlands in Karlshorst unterzeichnet, gleich zweimal sogar.
Es muss doch irgendwie Mai geworden sein, auch vor achtzig Jahren. Trotz allem, trotz Bombenkratern und Trümmern und zerschossenen Panzern überall, trotz der unzähligen Toten und den in der Stadt herumirrenden Überlebenden und Flüchtlingen. Ich habe in den letzten Tagen, an den sonnigen Tagen und fast schon sommerlichen Abenden, oft daran denken müssen. An diesem langen schönen Wochenende hat gefühlt die ganze Stadt friedlich in den Mai getanzt. Nicht einmal aus Kreuzberg waren dieses Jahr dramatische Ausschreitungen zu vermelden.
Ich saß in der Mitte dieser Woche, die vor 80 Jahren eine letzte Woche war, an diesem 1. Mai an der Havel, nachdem ich einen schönen Weg durch den unglaublich maigrünen Wald bis zum Wasser gelaufen war. Die Sonne schien mir so warm ins Gesicht und Kinder planschten vor mir im noch etwas kühlen Wasser. Der einzige Lärm war ihr Lachen, das Tuckern der Boote auf der Havel und das Kreischen der Pfauen von ihrer Insel. Ich saß da, auf den grünen Auen, am frischen Wasser und etwas zu essen und zu trinken und eine Decke hatten wir auch dabei. Und ich dachte: Dies ist der Frieden. Dies ist das, was uns versprochen ist. Das ist, wo wir hingeführt werden, wenn es nach Gott geht. Mit dem Ziel, dass wir alle wunderschön im Gras am Wasser sitzen und unsere Seele erquicken und uns am Mai und den Kastanien und dem Flieder und den Nachtigallen freuen können. Und wir selbst und unsere Kinder und Enkel nichts anderes kennen lernen als Frieden und Freiheit und Sicherheit. Genau da, wo ich saß, da werden wir hingeführt als Menschenherde, von Gott, dem guten Hirten.
Ich habe mich diese Woche gefragt, wie es vor 80 Jahren eigentlich Mai geworden sein kann in Berlin. Es fällt mir schwer, das als gleichzeitig zusammenzudenken, den Krieg, den Tod und die Zerstörung und den Frieden, das Leben und die neuen Anfänge. Aber dann höre ich von den grünen Auen und den dunklen Tälern, vom dem gedeckten Tisch und den Feinden, die irgendwie mit an diesem Tisch sitzen, direkt gegenüber sogar. Dass die Welt und das Leben nicht nur aus Maientagen bestehen, das verschweigt Gott uns nicht. Und es geht trotzdem zusammen, weil Gott als guter Hirte immer dabei ist. Dann, wenn ich freiwillig vorauslaufe, weil der Weg so schön ist und gut zu gehen. Und genauso dann, wenn ich kaum noch einen Schritt nach dem andern tun kann, weil der Weg so furchtbar mühsam ist und ich keine Ahnung habe, wo er mich hinführen wird.
Die wenigsten von uns suchen sich ihre dunklen Täler vorher aus oder machen sich bewusst Feinde. Aber beides begegnet uns trotzdem, in der Geschichte der Welt und in der Geschichte unseres Lebens: Wegstrecken und Zeiten, auf denen uns die Furcht die ganze Zeit im Nacken sitzt. Und die bittere Einsicht, dass es Menschen gibt, die es nicht gut meinen mit uns. Oder schlimmer noch, mit der ganzen Welt.
Jesus wusste das auch. In den Geschichten von ihm ist von beidem die Rede. Zum Beispiel von Menschenherden, die sich friedlich im grünen Gras am Ufer eines Sees lagern und für die Jesus mit nur fünf Broten und zwei Fischen einen Tisch deckt, an dem nicht nur alle satt werden, sondern auch noch jede Menge übrig bleibt. Und gleichzeitig schafft sich Jesus Feinde, mit allem, was er tut. Vor allem mit seiner Zuwendung zu den Armen und Schwachen und den gesellschaftlich Ausgegrenzten. Jesus ist kein sorgloser Hippie mit langen Haaren, der mit seinen Freunden von der Hand in den Mund lebt und höchstens durch seine unkonventionelle Erscheinung ab und an Aufsehen erregt, aber weiter niemanden stört. Jesus macht sich von Anfang seines öffentlichen Auftretens an Feinde mit seiner bedingungslosen Liebe zu allen Menschen. Und er weiß genau, in welche Gefahr ihn das bringt. Er sagt:
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe. (Joh 10, 11-13)
Jesus müsste das nicht so deutlich und mehrfach sagen, das mit dem guten Hirten, wenn er nicht sehr genau wüsste, dass es auch schlechte Hirten gibt. Sein Volk, das jüdische Volk, hatte über Jahrhunderte Gelegenheit, die Unterschiede zwischen guten und schlechten Hirten zu erfahren. Ihr esst das Fett und kleidet euch mit der Wolle und schlachtet das Gemästete, aber die Schafe wollt ihr nicht weiden. Das Schwache stärkt ihr nicht, und das Kranke heilt ihr nicht, das Verwundete verbindet ihr nicht, das Verirrte holt ihr nicht zurück, und das Verlorene sucht ihr nicht (Ez 34, 3f.)
Das hat der Prophet Ezechiel lange vor Jesus den religiösen und politischen Anführern seiner Zeit vorgeworfen: Ihr seid schlechte Hirten. „Mietlinge“ nennt Jesus diese schlechten Hirten. Es sind bezahlte Kräfte. Sie übernehmen eine Aufgabe, aber wenn es schwierig wird, haben sie keine innere Verantwortung gegenüber dem, was ihnen anvertraut worden ist.
Im Bunker im Garten der Reichskanzlei in der Voßstraße in Berlin-Mitte hat sich vor fast genau 80 Jahren der größte Mietling aller Zeiten aus der Verantwortung für das ihm anvertraute Volk gezogen. Schon im März hatte Adolf Hitler den sogenannten „Nero-Befehl“ zur Zerstörung aller noch vorhandenen Infrastruktur erteilt. Es soll gesagt haben: „Wenn der Krieg verloren geht, wird auch das Volk verloren sein. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu seinem primitivsten Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil, es ist besser, selbst diese Dinge zu zerstören. Denn das Volk hat sich als das schwächere erwiesen.“ (Zitat bei Sebastian Haffner, Anmerkungen zu Hitler, München 1978)
Um seine Menschenherden hat sich dieser Mietling nur gekümmert, solange sie vor ihm in riesigen Aufmärschen und Paraden oder als begeisterte Menge in Erscheinung traten. Mit den Millionen von geschwächten, kranken, verwundeten, verlorenen Menschen, die im Frühjahr 1945 durch die Trümmer Berlins und ganz Deutschlands und Europas irrten, wollte er nichts mehr zu tun haben.
Wir sollten aus unserer deutschen Geschichte ein für allemal gelernt haben, woran die Mietlinge zu erkennen sind. Wer sich darin bisher im Blick auf die Einschätzung der AfD noch unsicher war, hat es in der letzten Woche noch einmal unmissverständlich vom Verfassungsschutz gesagt bekommen: Das in dieser Partei „vorherrschende ethnisch-abstammungsmäßige Volksverständnis ist nicht mit der freiheitlichen demokratischen Grundordnung vereinbar.“ Und erst recht nicht mit dem Glauben an Jesus Christus, den guten Hirten, der sich den Schwachen und Kranken, den Verwundeten und Verlorenen ohne Bedingungen zuwendet und den von der Gesellschaft Ausgegrenzten mit besonderer Liebe begegnet.
Es ist Mai geworden in Berlin vor 80 Jahren. Es ist jetzt Mai in Berlin und Menschenherden lagern sich an diesem und den nächsten Wochenenden auf grünen Auen und am frischen Wasser. Sie sind unterschiedlich von ihrer Herkunft her, diese Menschenschafe, wie aus verschiedenen Ställen zusammengeführt.
Dies ist der Frieden. Dies ist das, was uns versprochen ist. Das ist, wo wir hingeführt werden, von Gott, durch Jesus, unseren guten Hirten. Mit dem Ziel, dass wir alle wunderschön im Gras am Wasser sitzen und unsere Seele erquicken und uns am Mai und den Kastanien und dem Flieder und den Nachtigallen freuen können. Und wir selbst und unsere Kinder und Enkel nichts anderes kennen lernen als Frieden und Freiheit und Sicherheit. Es ist Mai. Es wird Mai. Da, wo wir sind, mit unserem guten Hirten.