Epizentrum der Freiheit

Istanbul liegt in einem erdbebengefährdeten Gebiet. Die türkische Millionenmetropole liegt an einer geologischen Verwerfung, an der verschiedener Erdplatten aufeinandertreffen, sich aneinander reiben und sich verschieben. Gelegentlich entladen sich dann die Spannungen in einem Erdbeben. Diese Zone erhöhter Erdbebengefahr reicht von der griechischen Ägäis bis in die Osttürkei.

Reibung, Spannungen, vielleicht ein Erdbeben: Einen passenderen Ort hätte der ukrainische Präsident Selenskyj für ein Treffen zu Verhandlungen über eine Waffenruhe zwischen der Ukraine und Russland nicht vorschlagen können. Wie ein kleines Erdbeben hat allein schon die Nachricht gewirkt, dass sich der russische Präsident Putin möglicherweise auf den Weg nach Istanbul machen würde. Wie ein Erdbeben hätte die Nachricht vom Gelingen der Verhandlungen die Welt positiv erschüttert. Heute wissen wir: Das große Beben, die große Wende ist ausgeblieben. Der Weg zu Frieden und Freiheit ist immer noch versperrt. Die Situation erscheint weiter ausweglos, festgefahren, ohne Hoffnung auf den befreienden Moment.

Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Kerkermeister, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und es hörten sie die Gefangenen. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, sodass die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen und von allen fielen die Fesseln ab. (Apg 16, 23-26)

Wir befinden uns in einer Zone erhöhter Erdbebengefahr, in der griechischen Stadt Philippi. Es war die erste Stadt in Europa, in die Paulus und sein Mitarbeiter Silas von der heutigen Türkei aus gekommen waren, um die Menschen für den christlichen Glauben zu gewinnen. Die ersten Erfahrungen in Europa sind mutmachend. Schnell finden die beiden Anschluss und werden von Lydia in ihr Haus aufgenommen. Aber schon kurze Zeit später kommt es zum ersten Konflikt. Paulus und Silas geraten mit ihrer Botschaft von Jesus Christus in Konkurrenz zu anderen spirituellen Angeboten in der Stadt. Die Bewohner von Philippi fühlen sich gestört. Und Paulus und Silas werden festgenommen, ausgezogen und mit Stöcken geschlagen. Die Gewalt der Herrschenden wendet sich gegen sie.

So kommt es, dass Paulus und Silas nur wenige Tage nach ihrer Ankunft in Europa und dem hoffnungsvollen Anfang ihrer Arbeit in Philippi im innersten Gefängnis sitzen. Ihre Füße sind in einem hölzernen Block fixiert. Sie werden für so gefährlich gehalten, dass die Gefängnismauern allein nicht ausreichen. Und der Kerkermeister bekommt extra noch einmal den Befehl, diese beiden besonders gut zu bewachen.

So haben sich die beiden das in Europa nicht vorgestellt. Aber in dieser Situation, als es finster und unbeweglich und hoffnungslos um sie herum war, tun sie etwas Ungewöhnliches: Sie beginnen zu beten und zu singen. Der erste Eurovision Song Contest, mit nur zwei Teilnehmern. Aber mit der gleichen Hoffnung, dass Singen und Musik Grenzen überwindet, Menschen verbindet und Freiheit sich ausbreitet. Da unten im innersten Gefängnis breiten sich jetzt die Schallwellen der Hoffnung aus. Sogar durch die Gefängnismauern, denn ihre Mitgefangenen konnten sie singen hören.

Und als ob diese Schallwellen etwas Anderes, Größeres ausgelöst hätten, bebt plötzlich die Erde. Ein Beben, das die Grundmauern des Gefängnisses zum Wanken bringt. Alle Türen springen auf. Alle Fesseln fallen ab. Sogar der hölzerne Block, in dem die Füße von Paulus und Silas, stecken, zerbricht. Denn der Glaube an Jesus Christus lässt sich nicht einsperren im finstersten Kerker. Die Gedanken sind frei. Und Paulus und Silas werden es auch.

So soll es sein in Europa. Ein freies Land mit freien Menschen. Das war die Idee für Europa, nachdem die eine große Mauer gefallen und zuerst das Freiluftgefängnis DDR kaputt gegangen war, erschüttert wie von einem Erdbeben, mit ausgelöst durch die Gebete und den Gesang von Christinnen und Christen. Eine Freiheit, die sich ausgebreitet hat in Europa. Und die nicht einmal 40 Jahre später wieder gefährdet ist. Niemand von uns konnte sich das vorstellen.

Als aber der Kerkermeister aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offen stehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Der aber forderte ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Ihr Herren, was muss ich tun, dass ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren.

Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und bereitete ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, dass er zum Glauben an Gott gekommen war. (Apg 16.27-34)

In der Zone erhöhter Erdbebengefahr hat sich die Freiheit wie in Wellen ausgebreitet. Das Gefängnis ist kaputt. Die Gefangenen sind frei. Das ist blöd für den einen, der die Verantwortung hat und aufpassen muss, damit genau das nicht passiert. Der Kerkermeister scheint, passend zum ersten Eurovision Song Contest, eine rechte drama queen gewesen zu sein. Denn gleich zieht er sein Schwert, um es sich theatralisch irgendwo hineinzurammen. Weil er zero points für seine Performance als Kerkermeister bekommen hat. Er hat seinen Einsatz verpasst. Er hat es verpennt, hat die einzige Aufgabe, die er hatte, nicht erfüllt

Paulus muss ihn davon abhalten. Er, der Gefangene, muss jetzt den Kerkermeister trösten, der so fixiert ist auf seine Aufgabe, Menschen einzusperren und festzuhalten, als stecke er selbst nicht nur mit den Füßen, sondern gleich mit Kopf und Hals in einem Block.

Lass es, sagt Paulus ihm, tu es nicht. Wir sind doch alle hier. Keiner ist geflohen. Und du würdest sinnlos sterben, als ein Handlanger der Herrschenden, die uns hier gegen jedes Gesetz gefangen halten wollten.

Der Glaube zerreißt die Schranken und Mauern entzwei. Denn nicht nur die Gedanken sind frei, sondern auch alle die Menschen, die an Jesus Christus glauben und ihm vertrauen. Frei, tief innen drin, so wie Paulus und Silas, so möchte der Gefängniswärter auch werden. Ihm geht ein Licht auf, um Mitternacht im finsteren Kerker. Er fordert ein Licht und stürzt zitternd zu den beiden hinein in ihre Zelle, wo sie artig auf ihn gewartet haben. Und er fragt sie: Was muss ich tun, dass ich gerettet werde?

Dieser Kerkermeister hat eine Berufskrankheit entwickelt. Das Gefängnis, für das er verantwortlich ist, hat sich in ihm selbst eingenistet. Wenn er an andere Menschen denkt, dann kann nur noch an Gewalt und Unterdrückung und Unfreiheit denken. Dass Paulus und Silas frei und ohne Fesseln sind und trotzdem nicht weggelaufen, erschüttert sein Weltbild bis in die Grundfesten. Er kann sich einfach nicht denken, dass freie Menschen nicht alle weglaufen, sondern dableiben. Dass es sogar viel wahrscheinlicher ist, dass sie bleiben, wenn sie in Freiheit leben können.

Die Kollegen dieses Kerkermeisters von Philippi, all die Herrscher und Kerkermeister über ihre eigenen Völker, die hatten und haben vor nichts so viel Angst wie vor innerlich freien Menschen. Durch alle Zeiten hindurch, bis heute. Denn das ist ja die Gefahr, die für die Kerkermeister unserer Zeit von der Idee von Europa ausgeht: Dass hier die Freiheit und die Vielfalt regieren sollen.

Ich frage mich und habe mich es gestern Abend vor der bunten ESC-Show wieder gefragt: Welche Gefahr geht denn eigentlich genau von Menschen aus, die leben, wie sie leben möchten, lieben, wen sie lieben möchten, sich anziehen und zurechtmachen, wie sie es schön finden und sich den Namen geben, den sie tragen wollen? Wer kann davor im Ernst Angst haben und sich bedroht fühlen? Es müssen doch Menschen mit merkwürdigen und finsteren inneren Gefängnissen sein, die das einfach nicht ertragen können. Und vielleicht möchten sie eigentlich auch bloß daraus gerettet werden?

In einer Zone und Zeit erhöhter Erdbebengefahr im Blick auf die weltpolitischen Entwicklungen will ich glauben, dass es das gibt, was die Geschichte von Paulus und Silas im Gefängnis in Philippi erzählt: Kerkermeister, die ganz offensichtlich ihr eigenes inneres Gefängnis selbst satt haben. Kerkermeister, die vor sich selbst gerettet werden möchten. Kerkermeister, die neu anfangen und wiedergutmachen, was sie angerichtet haben.

In Philippi wäscht der Kerkermeister am Ende Paulus und Silas die Wunden und Striemen, die er ihnen selbst geschlagen hat. Und die beiden lassen es geschehen. Ein zartes, intimes Bild der Versöhnung: Die Wunden der anderen sehen, wahrnehmen, was man einander angetan hat. Und versuchen, es wieder gut zu machen. In der Zone und Zeit erhöhter Erdbebengefahr erinnere ich mich: Der Glaube an Jesus Christus ist das Epizentrum der Freiheit und der Versöhnung. Dieser Glaube erschüttert Menschen und bewegt ihre Herzen. Wo alles finster und ausweglos scheint, wird Licht.

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