Gestärkt durch einen ersten militärischen Erfolg, beschließt er, ein Strafgericht an der westlichen Welt zu vollstrecken. Er ruft seine Minister und Generäle zusammen, um seinen Plan mit ihnen abzustimmen. Dann lässt er einen Stellvertreter kommen und beauftragt diesen, seinen Auftrag in die Tat umzusetzen. Mit einem riesigen Heer und der besten materiellen Ausrüstung erobert er Landstrich um Landstrich. Es gibt nur ein einziges Volk, das ihm Widerstand leistet. Dort lässt der Stellvertreter des Herrschers Städte belagern und schneidet sie von der Wasser- und Nahrungszufuhr ab. Bald sind alle Bewohnerinnen und Bewohner nahe daran, aufzugeben. Die Rettung kommt in Gestalt einer Frau, die Widerstand leistet.
Die biblische Geschichte von Judith ist erschreckend zeitlos. In diesem biblischen Buch wurde die wechselvolle Geschichte Israels und seiner Unterdrückung durch fremde Besatzungsmächte zusammengefasst und im Sinne des Wortes „verdichtet“, zu einer spannenden und bildreichen Erzählung, die in der Begegnung von Judit und Holofernes endet. Erst verliert Holofernes, der Stellevertreter des Königs, fast den Verstand angesichts der schönen, klugen Judit. Aber dann verliert er nicht nur im übertragenen, sondern im buchstäblichen Sinn des Wortes seinen Kopf: Judith enthauptet ihn.
Aber um dieses in der bildenden Kunst vielfach dargestellte und brutale Ende der Geschichte soll es heute nicht zuerst gehen. Es geht um die Erfahrung, die im Hintergrund dieser Geschichte steht. Ob nun in Israel im 6. Jahrhundert vor Christus oder zu beliebigen anderen Zeiten. Herrscher mit dem ununterdrückbaren Bedürfnis, andere Länder zu überfallen und zu unterwerfen, gibt es immer. Und es läuft auch immer ganz ähnlich ab: Erste kleinere Unterwerfungen werden versucht und gelingen. Wenn sie keine deutliche Gegenreaktion provozieren, kommt der nächste Schritt. So war es 1938 und 1939 beim Beginn des 2. Weltkriegs, mit dem sogenannten „Anschluss“ des Sudetenlandes und dem Überfall auf Polen. So war es 2014 bei der sogenannten „Annexion“ der Krim und 2022 beim Beginn des Ukrainekriegs.
Man könnte aus der Geschichte etwas lernen. Man könnte aus der Erinnerung etwas lernen. Denn die Dinge stehen da und sprechen: Siehe, hier sind wir! Judit ist berühmt und oft dargestellt worden wegen ihres Muts und ihrer List, mit der sie die Waffen einer Frau einsetzte und nicht davor zurückschreckte, ein Messer in die Hand zu nehmen und den feindlichen Tyrann zu ermorden.
Aber bevor sie das tut, tut sie etwas anderes: Sie erinnert sich. Sie glaubt, dass Geschichte nicht einfach geschieht, sondern dass sie von Menschen gemacht wird. Und sie glaubt, dass Gott einen anderen Plan für diese Welt hat, einen Plan, der ohne Eroberung und Unterdrückung und Unterwerfung auskommt. Und damit hinterfragt sie alle, die sich brüsten mit der Kraft ihres Kriegsvolks, die ihre Hoffnung auf Schild und Speer, Bogen und Schleuder setzen. Auf diese Waffen ihrer Zeit, die uns heute beinahe wie Kinderspielzeuge vorkommen und nach denen man sich in der Zeit der Drohnenangriffe, Langstreckenraketen und Atomsprengköpfe regelrecht zurücksehnt.
Bevor sie handelt, erinnert Judit sich. Und eigentlich ist das schon genug. Denn sich und andere erinnern kann Widerstand sein. Die Geschichte der Menschenrechtsorganisation Memorial beweist es. „Schwerpunkte von Memorial waren die historische Aufarbeitung politischer Gewaltherrschaft, das Eintreten für die Einhaltung der Menschenrechte und die soziale Fürsorge für die Überlebenden des sowjetischen Systems der Arbeitslager (Gulag). Memorial war in Russland immer wieder repressiven Maßnahmen ausgesetzt. Im November 2021 beantragte die russische Staatsanwaltschaft, Memorial und ihre regional in Russland aktiven Einrichtungen aufzulösen.“
So nüchtern, wie es der Wikipedia-Artikel zusammenfasst, stehen die Dinge da und sprechen. Sie sind heute abend lebendig geworden in dem, was unsere Gäste von „Zukunft Memorial“ uns berichtet haben. Und Memorial wurde von den russischen Machthabern in ähnlicher weise bekämpft, wie es der Taktik der Herrschenden ist: Erst kamen kleiner Unterwerfungen, als Memorial 2016 auf die Liste „ausländischer Agenten“ gesetzt wurde, bis zum endgültigen Verbot im Dezember 2021. Dabei hat Memorial nicht anderes getan, als das zu pflegen, was wir in Deutschland „Erinnerungskultur“ nennen: Die Erforschung des stalinistischen Repressionssystems, das Sammeln von Erinnerungen der Überlebenden der GULAGs, der Hinweis auf das Schicksal politischer Gefangener im heutigen Russland. Dafür hat Memorial auch mit der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde und mit der Evangelischen Kirche in Deutschland zusammengearbeitet. Und allein diese Erinnerungsarbeit war für die Herrschenden in Russland so bedrohlich, dass sie sich nicht mehr anders zu helfen wusste als mit dem Verbot der Organisation.
Schon Erinnern ist Widerstand. Das zeigt die Geschichte von Judit und die Geschichte von Memorial. Die Dinge stehen da und sprechen. Und wenn wir denken, wir seien zu ängstlich oder zu schwach oder insgesamt viel zu wenig handgreiflich, um auf irgendeine Weise Widerstand zu leisten, dann erinnern wir uns an das, was wir heute abend gehört haben. Nicht jede, nicht jeder ist zum Tyrannenmord gefordert. Aber jede und jeder ist aufgefordert, sich zu erinnern, die Dinge sprechen zu lassen, gerade die Erinnerungen an die deutsche Tyrannei über ganz Europa. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir müssen sehr aufmerksam sein, wenn sich politische Bestrebungen zeigen, in denen von „Schlusstrichen“ geredet wird, die Projekte und Akteure der Erinnerungskultur schwächen und so verhindern wollen, dass wir weiter aus unserer deutschen Geschichte lernen. Das wird jeden Tag wichtiger, in diesen Zeiten, in denen wir uns besorgt fragen, ob und wann vielleicht doch ein Dritter Weltkrieg beginnen könnte.
Ich erinnere mich heute, an das, was Judit von dem Gott Israels sagt: „Denn nicht in der Übermacht liegt deine Kraft und deine Herrschaft ruht nicht auf den Starken, sondern du bist ein Gott der Erniedrigten, ein Helfer der Geringen, ein Beistand der Schwachen, ein Beschützer der Verachteten und ein Retter der Hoffnungslosen“ (Jud 9, 11) Die Dinge stehen da und sprechen. Und es ist an uns, eine Antwort zu geben.