Es wird gesät

Eine Predigt zu 1. Kor 15,35-44 am 24. November 2019 (Totensonntag)

Wir müssen uns vormalen lassen und ins Herz bilden, wenn man uns unter die Erde scharrt,
dass es nicht heißen muss gestorben und verdorben, sondern gesät und gepflanzt und dass wir aufgehen und wachsen sollen in einem neuen, unvergänglichen und ungebrechlichen Leben und Wesen.
Wir müssen eine neue Rede und Sprache lernen, von Tod und Grab zu reden,
wenn wir sterben, dass es nicht gestorben heißt, sondern auf den zukünftigen Sommer gesät,
und dass der Kirchhof nicht ein Totenhaufe heißt, sondern ein Acker voll Körnlein, nämlich Gottes Körnlein, die jetzt sollen wieder hervorgrünen und wachsen, schöner als ein Mensch begreifen kann.
Es geht nicht um eine menschliche, irdische Sprache, sondern eine göttliche und himmlische.
(Martin Luther)

(Es könnte jemand fragen)
Es könnte aber jemand fragen: Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? Ja, das könnte jemand fragen. Und nicht nur jemand, sondern viele von uns. Besonders diejenigen, die sich im vergangenen Jahr von einem geliebten Men- schen verabschiedet haben. Und die, denen das schon vor längerer Zeit passiert ist. Es könnte heute jemand fragen. Wenn man gerade nicht selbst betroffen ist, dann neigt man vielleicht dazu, die Frage zu verdrängen. An den Rand meiner Tage, später, irgendwann, aber jetzt doch noch nicht. Aber heute steht diese Frage im Raum. Sie bringt uns alle an einen Rand, ganz ähnlich dem, an dem viele von Ihnen in diesem Jahr stehen mussten. Dieser Rand dort, wo der Rasen aufgegraben ist, die dunkle Erde, Blumen und Tränen. Während auf den Fried- höfen immer die Vögel singen, als wäre gar nichts gewesen und der Wind durch die hohen Bäume geht. An diesen Rand fragen wir uns heran, ein Leben lang. Und spätestens dann, wenn wir dort stehen, fragen wir: Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? Werden sie so sein, wie sie gewesen sind, alle die, an deren Grab ich, die Pfarrerin, in diesem Jahr gestanden habe?

(Die Toten)
Eine, die so gerne bei ihrem Sohn leben wollte, dass sie auch die Berliner Mauer nicht davon abhalten konnte.
Eine, die das Flanieren auf dem Ku’damm über alles liebte, bis ins hohe Alter immer so schick und gepflegt war, weil sie als Kriegskind so viel nachzuholen hatte.
Eine andere, die man auf fast allen Empfängen und Events in Berlin treffen konnte, weil sie irgendwie immer an Einladungen kam.
Der eine, der ein so guter Lehrer gewesen ist, dass er sich mit seinen Schülern noch getroffen hat, als sie auch schon alle graue Haare hatten.
Der, der das Meer in der Bretagne über alles geliebt hat.
Die Sängerin mit der schönen Stimme. Irgendwann in ihrem Leben wurde sie aber so traurig, dass sie nicht mehr singen konnte.
Der, der ein so guter Freund und Arbeitskollege war, dass ich noch nie so viele Männer mit Tränen in den Augen auf einmal vor mir gesehen habe.
Eine, die als Krankenschwester ihr Leben lang für andere da gewesen ist, bis sie dann selbst gepflegt werden musste.
Alle hatten jemanden, den sie liebten. Und alle hatten jemanden, der sie liebte.
Wie werden die Toten auferstehen und mit was für einem Leib werden sie kommen? Könnten wir doch diese Frage nach dem Wie beantworten. Auch die Frage nach dem Ob wäre dann still. Es könnte jemand das fragen. Und das sind wir.

(Was wir bergen in den Särgen)
Auf dem großen schönen Friedhof in meiner Kindheit, wo immer Vögel sangen und der Wind durch die hohen Bäume ging, besuchten wir die, die wir liebhatten, gossen die Blu- men auf ihrem Grab und harkten die Erde. Und dann gingen wir immer noch mal zu der einen, besonders großen und schönen Grabstelle. Eine ganze Wand voller gleicher Nach- namen und Daten von Geburt und Tod, rundherum umrahmt von einem Spruch: „Was wir bergen in den Särgen, ist das Erdenkleid. Was wir lieben, ist geblieben, bleibt in Ewigkeit.“ Von Goethe, aber das wusste ich damals noch nicht. Der Spruch hat mich aber trotzdem nicht überzeugt. Denn das wusste ich schon damals: Die gestorben sind, die vermissen wir nicht in Teilen. Die vermissen wir ganz. Ihre Stimme und ihren Blick, ihr Lachen und ihre Berührung. Ihr Erdenkleid. Und wenn ein anderes Lachen oder ein anderer Blick uns daran erinnern, dann kommt der Schmerz auf einmal zurück. Dann ist es egal, wie lange es her ist. Denn wir lieben ja auch nicht in Teilen, sondern ganz.

Deswegen ist jeder ein Narr, der uns damit trösten will: Dass nur das Erdenkleid vergeht und ein Teil bleibt von denen, die wir lieben. Ein Narr, auch Goethe. Zusammen mit allen anderen, die an eine unsterbliche Seele denken oder dass wir in den Herzen anderer Menschen weiterleben. Oder sich auf den physikalischen Erhaltungssatz berufen, dass im Universum keine Materie verloren geht und also auch von uns irgendetwas übrigbleibt, vielleicht sogar alles irgendwo. Nur nicht das Erdenkleid, das Lachen, der Blick, die Stimme. Ich weiß schon, warum ich Goethe nicht leiden kann und Physik auch nicht. Weil es mich einfach nicht tröstet.

(Das Rätsel in der Mitte)
Auf all den Steinen auf dem Friedhof unter den hohen Bäumen stehen Daten von Geburt und Tod. Was vor dem ersten Datum war, das weiß keiner. Nur dass es irgendwann einmal den Anfang vor unserer Geburt gegeben haben muss, als wir gemacht wurden im Leib unserer Mutter. Das Rätsel in der Mitte zwischen Nicht-sein und Sein. Dieses Geheimnis,
das nur immer größer wird, je mehr man es erforschen kann, bis zum heutigen Tag. Wie wir noch ganz im Verborgenen zu Menschlein werden, mit Augen und Mund, Händen und Füßen, einem kleinen, klopfenden Herz schon nach wenigen Tagen. Wie wir dann geboren werden und als erstes unsere Stimme zu h ren ist und wir sehen können und bald auch lachen und greifen. Und genauso wird es nach dem zweiten Datum auf dem Stein sein: Was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt. Und was du säst, ist ja nicht der Leib, der werden soll, sondern ein bloßes Korn, sei es von Weizen oder etwas anderem. Gott aber gibt ihm einen Leib, wie er will.
Du Narr, sagt Paulus, weißt du das etwa nicht? Fast vorwurfsvoll, so als müsste das jeder wissen. Und eigentlich weiß es ja auch jeder: Wo gesät wird, da vergeht und wird etwas zur gleichen Zeit: Same ist‘s gewesen, Pflanze wird es nun sein, ohne doch aufzuhören, dasselbe zu sein. (Karl Barth). Irgendwo dazwischen ist dieses Rätsel, in der Mitte zwischen Nicht-Sein und Sein. Dieses Geheimnis gibt es nicht nur am Anfang unseres Lebens, son- dern noch einmal am Ende. Das Leben ist Werden und Vergehen. Und Werden.

(Es wird gesät)
Bei jeder Beerdigung im vergangenen Jahr habe ich die Worte gesagt. Auf den vielen schönen Friedhöfen in Berlin mit den hohen Bäumen. Immer dann, wenn ich am Rand stand, wo der Rasen aufgegraben ist und ich die dunkle Erde sehen konnte:
Es wird gesät verweslich und wird auferstehen unverweslich.
Es wird gesät in Niedrigkeit und wird auferstehen in Herrlichkeit. Es wird gesät in Schwachheit und wird auferstehen in Kraft.
Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib.

Und es hat mich getröstet. Zu wissen: Wir haben niemanden von ihnen begraben. Wir haben sie nur ausgesät, dass sie wiederkommen. Und dann werden wir sie gleich erkennen, an ihrer Stimme und ihrem Blick, ihrem Lachen. Weil sie die sein werden, die sie waren.

Amen

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