Fehmarnsund

Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Was des Glaubens wert ist, lernt man zum Beispiel im Konfirmandenunterricht. Das Thema Sünde habe ich damals sehr anschaulich erklärt bekommen. Nicht mit prakti-schen Beispielen, auch nicht mit theologischen Begründungen, sondern mit den geo-graphischen Gegebenheiten meiner Heimat. Ich bin in Ostholstein geboren und auf-gewachsen. Wer dort schon einmal war, eine knappe Stunde von Lübeck weiter in nordöstliche Richtung, kennt auch die Insel Fehmarn und den weiten Bogen der Fehmarnsundbrücke.
Vorher, so wurde es uns im Konfirmandenunterricht erzählt, gab es keine feste Ver-bindung. Der Sund trennte die Insel vom Festland. Und Sünde – damit waren wir dann beim Thema – hört sich nicht nur so ähnlich an. Die beiden Worte haben die gleiche Wurzel: Sund ist Trennung vom Festland. Sünde ist Trennung von Gott. Für uns als Konfirmanden war diese Mischung aus Heimatkunde und Theologie sehr an-schaulich.

Diese Erklärung hatte außerdem den Vorzug, dass man sich bestimmte Fragen gar nicht stellte. Weder in geographischer noch in theologischer Hinsicht. Etwa die Frage: Wo kommen denn der Sund und die Sünde überhaupt her?
Irgendwas mit Eiszeit und Gletschern. Irgendwas mit Paradies und Sündenfall. Beides viel zu lange her, um mit dem Leben von Konfirmanden Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts noch irgendetwas zu tun zu haben. Ist eben so. War schon immer so.
In den Jahren des Studiums der Theologie habe ich natürlich mehr und genaueres über die Sünde und ihre Herkunft gelernt. Über den Sündenfall, die Erbsünde, die Tatsünden, das Verhältnis von Sünde und Schuld, über freien und unfreien Willen, Prädestination und was sonst noch den Bereich der Sündenlehre betrifft.
Und ich habe gemerkt: So viel weiter hat es mich nicht unbedingt gebracht.
Diese Kenntnisse haben mit dem Leben der meisten Menschen ungefähr so viel zu tun wie die genaue Kenntnis der Phasen der Weichsel-Eiszeit im Pleistozän. Sünde, das ist die Ampel bei Rot und das Stück Kuchen zu viel. Aber ist das Getrenntsein von Gott heute wirklich noch ein Problem, das Menschen beschäftigt?

Die Insel Fehmarn, um in meinem Bild zu bleiben, ist kein schlechter Ort, im Gegen-teil, sie ist sogar die sonnenreichste Gegend Deutschlands. Wer dort ist, sehnt sich nicht stets und ständig nach dem Festland oder sucht die Verbindung dorthin. Den Fehmaranern sagt man in meiner Heimat sogar nach, sie vermieden es geradezu, den nur gut einen Kilometer breiten Sund zu überqueren, wenn es nicht unbedingt nötig sei. So ähnlich erlebe ich es bei vielen Menschen mit ihrer Beziehung zu Gott. Es war schon immer so, es ist gut so, wie es ist. Nicht schlecht zu wissen, dass es dieses Fest-land gibt. Aber man kann sein Leben auch gut auf der Insel der eigenen Seligkeit verbringen.

Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Dramatische Geschichten der Trennung von Gott kommen aus einer anderen Zeit. Der Sündenfall, die Vertreibung aus dem Paradies ist die Urgeschichte der Sünde. So sehr am Anfang, so lange her, dass wir darin so selbstverständlich leben, wie ich in der Endmoränenlandschaft meiner Heimat. Es war noch nie anders und es sieht doch sogar ganz schön aus um mich herum. Von den großen Verschiebungen der letzten Eiszeit ist nur noch eine sanfte Hügellandschaft übriggeblieben.
Ich bin doch gar kein verlorener Sohn, keine verlorene Tochter, die sich in der Frem-de an Schweinetrögen grämt und sich nach dem Vaterhaus zurücksehnt. Dramatische Lebenswenden habe ich in meiner Biographie nicht aufzuweisen. So richtig bewusst das Falsche getan, einen verkehrten Weg eingeschlagen – ich wüsste nicht, wann das gewesen sein sollte. Ich habe die Trennung nicht vollzogen. Sie war irgendwie schon immer da.
Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Ich bin immer die erste. Es geht zuerst um mich und um die Frage, wie inselartig ich mein Leben leben will. Der Sohn, der später der verlorene genannt wurde, hat alle Brücken hinter sich abgebrochen. Er wollte sein Erbteil haben. Daran gibt es nichts zu kritisieren. Es steht ihm schließlich zu. Aber er nimmt es und geht damit weg und lebt nur noch für sich. Er verlebt sein Geld mit Prassen.
Wenn diese Trennung Sünde ist, dann ist das alles doch nicht so weit entfernt von unserer Zeit und meinem Leben. Es ist ja im Moment deutlich wie lange nicht zu se-hen, dass wir in Europa keine Insel sind, schon gar keine Insel der Seligen. Und die Zeiten vorbei sind, in denen man nehmen kann, was einem gehört und zusteht und damit machen, was man will, ohne sich noch weiter um die anderen zu kümmern. Weder in seinem Leben noch im Zusammenleben aller Menschen in dieser Welt. Sünde, Trennung von Gott, besteht vielleicht nicht so sehr in dem, was wir Böses oder Falsches tun. Sünde ist das Gute und Richtige, das wir nicht tun.

So wie Paulus es in seinen vielen Briefen beschreibt, auch in dem heute: Ich danke unserem Herrn Christus Jesus, der mich stark gemacht und für treu erachtet hat und in das Amt eingesetzt, mich, der ich früher ein Lästerer und ein Verfolger und ein Frevler war. So war das bei Paulus. Er hat die ersten Christen erbittert verfolgt. Bis ihm eines Tages und blitzartig klar wurde, dass dieser Weg ein falscher Weg war. Seine Geschichte sagt mir: Man kann sehr lange Zeit glauben, genau auf dem richti-gen Weg zu sein. Und sich gerade damit von Gott trennen. Inselartig vor sich hin le-ben. Aber irgendwann ist es dann nicht mehr gut so, wie es ist. Paulus ist ein Vorbild für alle, die an Jesus Christus glauben. Und zwar nicht deswegen, weil er immer alles richtig gemacht hätte. Im Gegenteil: Er ist ein Vorbild, weil er erkannt hat, dass er auf einem falschen Weg unterwegs war. Weil er sich hat unterbrechen lassen in seinem selbstgerechten und falschen Tun. Von Jesus und von Jesu Botschaft.

Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich der erste bin.

Ich bin immer die erste. Es geht doch um mich und um mein Leben. Die verlorene Tochter in der Fremde bin manchmal doch ich. Sie hat ihr Leben in die eigene Hand genommen und eine Zeitlang ging es sehr gut und dann ging es schief. Ich bin auch Paulus, so sicher und so selbstgerecht auf einem Weg, der nur richtig sein kann, weil schließlich ich ihn gehe. Es gab und gibt auch heute in meinem Leben den Moment, in dem es mich trifft, wie Paulus der Blitz auf dem Weg nach Damaskus. Es gibt den Moment, in dem ich merke: Das ist ja ein Schweinetrog, an dem ich hier sitze. Und merke, was mir fehlt und wovon ich mich getrennt habe.

Und die gute, die beste Nachricht, die wir von Jesus haben, die wird in der Geschich-te vom verlorenen Sohn erzählt. Es gibt immer die Möglichkeit, umzukehren. Es gibt immer ein Zurück. Es gibt einen Weg und der führt nach Hause, immer nach Hause. Da steht einer und steht nicht nur und wartet, sondern kommt mir entgegengerannt, mit weit offenen Armen. Und sollte da noch ein Sund sein, ein Wasser, das uns trennt, dann ist da jetzt auch eine Brücke. Und dann sehe ich schon das Licht auf dem Wasser und einen weiten Bogen vor den Himmel.

Das ist gewisslich wahr und ein Wort, des Glaubens wert, dass Christus Jesus in die Welt gekommen ist, die Sünder selig zu machen, unter denen ich die erste bin.

Amen.

(Foto: Sabina Jaeckel-Engler)

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