Unterwegs kam Jesus nach Sychar, einem Ort in Samarien. In seiner Nähe liegt das Grundstück, das Jakob einst seinem Sohn Josef vererbt hatte. Dort befand sich der Jakobsbrunnen. Jesus war müde von dem langen Weg und setzte sich an den Brunnen. Es war um die sechste Stunde. Da kam eine Samariterin, um Wasser zu schöpfen. Jesus bat sie: Gib mir etwas zu trinken. Da sagte die Samariterin zu ihm: „Du bist ein Jude, und ich bin eine Samariterin. Wie kannst du mich um etwas zu trinken bitten?“ Denn die Juden vermeiden jeden Umgang mit Samaritern. (Joh 4, 5-7.9)
Jesus ist erschöpft. Er ist hungrig und durstig und müde. Ihm brennen die Füße. Ihm klebt die Zunge am Gaumen. Ihm knurrt der Magen. Und es ist Mittag und die Sonne wirklich unerträglich heiß. Wahrscheinlich ist ihm gerade alles egal. Er geht jedenfalls keinen Schritt weiter. Seine Freunde schickt er ins nächste Dorf voraus, damit sie etwas zu essen zu besorgen. Aber leider nützt es ihm gerade gar nichts, dass er an einem Brunnen sitzt.
Denn der Brunnen ist zwar ein Brunnen mit großer Vergangenheit. Man erzählt sich Geschichten davon. Man kommt hier aber selten vorbei, denn in Samarien haben Juden nicht zu suchen. Ihre Feindschaft hat Tradition. Wer kann, umgeht Samarien weiträumig. Und nur, wer wirklich nicht mehr kann, macht ausgerechnet hier eine Pause.
Die Geschichten rund um diesen Brunnen, die Vergangenheit und die Tradition interessieren Jesus gerade etwas weniger als seine hungrige, durstige, erschöpfte Gegenwart. Hier kommt ihm alles fremd und feindlich vor, selbst dieser Brunnen, der gar nichts dafür kann. Was nützt einem der tiefste Brunnen mit großer Vergangenheit, wenn man gerade jetzt nichts zum Schöpfen hat?
Und weil dies ein richtiger Glückstag für Jesus ist, kommt jetzt ausgerechnet eine Frau an den Brunnen. Er darf als Mann keine Frau ansprechen. Das verbieten ihm die Grenzen des Anstands. Er darf als Jude keine Samaritanerin ansprechen. Das verbieten ihm die Grenzen seines Glaubens. Er darf als Fremder keine Einheimische ansprechen. Das verbieten ihm die Grenzen dessen, was Fremde in einem fremden Land zu bitten haben.
Und auf einmal bin ich ganz bei Jesus, an diesem Brunnen. Ich bin kurz vor Mittag hier in Berlin und es ist wirklich unerträglich. Ich möchte mich manchmal auch nur noch hinsetzen, weil ich das Gefühl habe, es geht keinen Schritt mehr weiter. Ich bin erschöpft von der Welt und von dem, was in ihr geschieht.
Ich habe mir das diese Woche alles angesehen, die Bilder aus Amerika, das Auf-Trumpen derjenigen, die Grenzen super finden und alles dafür tun, damit ihre eigenen Länder und am besten die ganze Welt gespalten werden. Und immer und überall und auch bei uns geht es wie besessen gegen die Fremden. Ob hungrige, durstige, erschöpfte Menschen zu essen, zu trinken, Ruhe finden, das hängt davon ab, wo sie herkommen und ob sie Fremde oder Einheimische sind. Einen Bogen sollen sie doch machen, all die Fremden und gleich auch noch alle andern, die irgendwie anders sind. Jedenfalls in unserem Land.
Ich bin ganz bei Jesus. Ich glaube, dass Jesus Gottes Sohn ist. Und ich glaube, dass Gott in den Hungrigen und Durstigen, in den Erschöpften und Fremden zu uns kommt. Und wir in ihnen Gott treffen. Jesus sagt: „Denn ich bin hungrig gewesen und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen und ihr habt mich aufgenommen. Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (Mt 25, 35.40).
Ich bin ganz bei Jesus. Und ich weiß, wo Jesus ist. Er sitzt immer noch in der Mittagshitze an diesem Brunnen. Jetzt. Er ist in all den Hungrigen und Durstigen, in den Müden und Fremden dieser Welt. Und was wir ihnen nicht tun, das tun wir Jesus nicht. „Gib mir etwas zu trinken“, sagt Jesus zu der Frau. Und dann wird alles unwichtig, was Menschen angeblich voneinander trennt: Mann oder Frau sein, Jude oder Samaritanerin, Fremder oder Einheimische. All die sichtbaren und unsichtbaren Grenzen. Hier kommen zwei Menschen wirklich zusammen. Einer hat Durst und eine hat Wasser. Eine wird schöpfen und einer wird trinken. So soll es sein unter uns Menschen. So einfach. Dieser Brunnen ist unerschöpflich. Und in seiner Tiefe spiegelt sich der Himmel.
An diesen Brunnen hat mich in der vergangenen Woche noch einmal eine andere Frau geführt. Sie ist Pfarrerin wie ich und Bischöfin und sie hatte die schwere Aufgabe, im Gottesdienst nach der Amtseinführung von Donald Trump zu predigen. Er saß in der ersten Reihe. Und die Frau auf der Kanzel hat ihren ganzen Mut zusammengenommen und den Präsidenten gebeten, barmherzig zu sein. Sie hat gesagt:
„Es gibt schwule, lesbische und transsexuelle Kinder in Familien von Demokraten, Republikanern und Unabhängigen, von denen einige um ihr Leben fürchten. Und die Menschen, die unsere Ernten einbringen und unsere Bürogebäude putzen, die in Geflügelfarmen und Fleischverarbeitungsbetrieben arbeiten, die in Restaurants das Geschirr nach dem Essen abwaschen und in Krankenhäusern Nachtschichten schieben: Sie sind vielleicht keine Staatsbürger oder verfügen nicht über die richtigen Papiere, aber die große Mehrheit der Einwanderer ist nicht kriminell. Sie zahlen Steuern und sind gute Nachbarn.
Ich bitte Sie, Herr Präsident, Erbarmen mit denjenigen in unseren Gemeinden zu haben, deren Kinder befürchten, dass ihnen ihre Eltern weggenommen werden, und dass Sie denjenigen, die aus Kriegsgebieten und vor Verfolgung in ihren Heimatländern fliehen, helfen, hier Mitgefühl und Aufnahme zu finden. Unser Gott lehrt uns, dass wir barmherzig mit dem Fremden sein sollen, weil wir einst alle Fremde in diesem Land waren.“
Diese Bischöfin ist ganz bei Jesus. Und alles, was sie gesagt hat, ist wahr. Es bleibt auch dann wahr, wenn in unserem Land etwas Schreckliches geschieht, wie der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Magdeburg oder die unfassbare Tat in dieser Woche in Aschaffenburg. Es waren Fremde in unserem Land, die das getan haben. Aber nicht alles, was schrecklich ist, tun die Fremden in unserem Land. „Die große Mehrheit der Einwanderer ist nicht kriminell. Sie zahlen Steuern und sind gute Nachbarn.“ Auch bei uns.
Ich bin erschöpft von der Welt, wie sie ist. Ich habe Sehnsucht nach solchen Orten wie dem Jakobsbrunnen, an dem alle Grenzen überwunden werden, einfach so. Und Menschen wirklich zusammenkommen. Ein Trost, für mich ist das, was Jesus zu der Frau am Brunnen noch sagt:
Wer von diesem Wasser hier trinkt, wird wieder Durst bekommen. Aber wer von dem Wasser trinkt, das ich ihm gebe, wird nie wieder Durst haben. Denn das Wasser, das ich ihm geben werde, wird in ihm zu einer Quelle werden: Ihr Wasser fließt und fließt – bis ins ewige Leben. (Joh 4,11f.)
Der hungrige, durstige, erschöpfte Jesus hat eine Frau um Wasser gebeten und Wasser bekommen. Und gleichzeitig sieht er in die Tiefen ihres Lebens. „Sehnsucht“, dieses Wort steht unsichtbar über ihrem Leben. Fünf Männer hat die Frau schon gehabt. Und der, den sie jetzt hat, ist auch nicht ihr Mann. So ein Hunger nach Leben und so ein Durst nach Liebe, nicht einmal ängstlich verborgen, sondern gelebt. Aber ihre Sehnsucht hat sich trotzdem nicht erfüllt.
Und jetzt, kurz vor zwölf in der Mittagshitze, sagt Jesus zu der Frau. Du bist angekommen. Hier ist dein Sehnsuchtsort. Denn du gibst mir gerade zu trinken. Aber ich habe auch Wasser für dich. Für den anderen Durst und den anderen Hunger und gegen diese andere Müdigkeit. Denn die gehen ja nicht weg, nicht mit einem Mann nach dem anderen: Auch nicht mit all den anderen Dingen, die man tun kann, um sich von seiner Sehnsucht abzulenken.
Ich kenne deine Tiefen, sagt Jesus zu der Frau. Und er sagt es zu mir, zu euch.
Trink von diesem Wasser, das ich gebe. Dann schmeckst du das Leben.
Dann weißt du, wie rein und wie einfach es eigentlich ist.
Dann weißt du, was du wirklich brauchst und was du anderen geben kannst.
Trink. Und du selbst wirst wie ein Brunnen sein. Der Himmel spiegelt sich darin.
Herr, gib mir dieses Wasser. Dann habe ich nie mehr Durst. (Joh 4, 15)