„Es ist Mitternacht, sie aber macht sich Sorgen, ob für die morgigen Gäste genug übrig geblieben ist. Sie hatte eine gehörige Menge Hefeteilchen im Keller beiseitegestellt, ist aber im Lauf des Tages nervös geworden und hat von diesem Vorrat draußen nachlegen lassen. Mitten in der Nacht steht sie mit der Taschenlampe im Keller, zählt die Teilchen, geht die morgigen Gäste durch und die, die möglicherweise uneingeladen mitkommen. Wenn niemand zwei nimmt, kommt es vielleicht hin. Es stimmt nicht, dass man seine Sorgen bei Gott abladen und im Vertrauen auf ihn getrost zu Bett gehen kann, denn Christi Kirche ist in hohem Maß auf ihr Bodenpersonal angewiesen. Bittet, so wird euch gegeben – ja sicher, aber nur wenn jemand gebacken und den Tisch gedeckt hat. (…) Wunder sind selten. Arbeit gibt es mehr als genug.“ (Lundberg, 373f.)
In ihrem stimmungsvollen und genau beobachteten Roman „Eis“ erzählt die finnlandschwedische Pfarrerstochter Ulla-Lena Lundberg von den ersten Jahren einer jungen Pfarrfamilie auf der ersten Pfarrstelle auf den Aland-Inseln. Mona, die junge und überaus tüchtige Pfarrfrau wird als eine typische Marta gezeichnet, unablässig zwischen Feld, Stall, Küche, Kindern und Kirche unterwegs. Gäste, insbesondere Übernachtungsgäste, sind für Mona stets eine Heimsuchung. Sie ist die perfekte Pfarr- und Hausfrau, tut aber alles, was sie tut, nicht ohne inneren Groll gegenüber den Familien- und Gemeindemitgliedern, die sich wie selbstverständlich an den von ihr gedeckten Tisch setzen. Ihre Geschäftigkeit verhindert einerseits den wirklichen Kontakt zu all den Menschen aus Familie und Gemeinde, die ihre Nähe suchen. Andererseits bleibt sie auf diese Weise eine bewundernswert klare und autarke Persönlichkeit. Ihr Mann, der Pfarrer, scheitert dagegen immer wieder grandios an der Herausforderung, seine eigenen Bedürfnisse von den Beziehungswünschen anderer Menschen abzugrenzen.
Wie in Lundbergs Roman, so wird auch in der biblischen Geschichte von Maria und Marta auf zwei Personen verteilt, was eigentlich in einer Person zusammengehört. Jesu Antwort auf die Frage der Schriftgelehrten „Was muss ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?“ (Lk 10,25) ist das Gebot der Gottes- und der Nächstenliebe. Lukas malt diese Antwort in zwei zusammengehörenden Bildern aus: Die Nächstenliebe in der Geschichte vom Barmherzigen Samariter und die Gottesliebe in der Geschichte von Maria und Marta.
Mit dieser kontextuellen Sichtweise kann die Spannung zwischen Hören und Tun nun nicht in die Geschichte von Maria und Marta hineingezogen werden. Dem Erzähler Lukas geht es hier nicht um ein Besseres, sondern um das andere Gute. Die Versuchung, Alternativen etwa zwischen einer vita activa und einer vita contemplativa zu konstruieren, durchzieht ohne Zweifel die gesamte Wirkungsgeschichte dieses Textes. Sie verkennt damit aber das radikal Neue, das mit dem Evangelium in die Welt gekommen ist. Maria und Marta bilden eben gerade nicht das antike Schema der „gegensätzlichen Frauen“ nach, sondern fordern dazu auf, dieses Schema zu durchbrechen.
Der Konflikt zwischen Maria und Marta in der „ungeschickten Form der Dreieckskommunikation“ (vgl oben A) kann meiner Meinung nach durchaus als der Versuch Martas gedeutet werden, ihren inneren Konflikt zu externalisieren. Sie hat genug Maria in sich, um die Maria vor ihren Augen und deren „Präsenz in Aufmerksamkeit und Liebe“ (Bovon, 105) als auch für sich erstrebenswerte Haltung zu sehen. Und sie ist selbstbewusst genug, um zu wissen, dass auch ein schön und reich gedeckter Tisch eine Präsenz der Aufmerksamkeit und Liebe ist. Maria und Marta sind nicht einfach zwei Frauen. Sie sind Schwestern.
„Das lukanische Bild besteht nicht in Schwarz-Weiß-Malerei, (…) sondern in feiner Abstufung: Es geht nicht um einen schlechten Teil, der dem guten Teil, den Maria gewählt hat, entgegengesetzt ist. Marta ist nicht in die Finsternis gestützt, sie ist bedroht, was Anlaß zu den zärtlichsten Ratschlägen Jesu gibt (‚Marta, Marta…‘). (…) Jesus will sie nicht von ihrem Dienst befreien, sondern von dem, was ihr die Freude und das Strahlen nimmt: die Angst, allein zu sein in ihrer Arbeit, den Eindruck, das ganze Gewicht laste auf ihren Schultern, und das Gefühl, Gott sei untätig. Lukas legt uns nahe, zuerst Maria zu sein und dann Marta zu werden, aber eine Marta, die unterstützt wird vom Herrn und umgeben ist von ihrem Schwestern und Brüdern im Glauben.“ (Bovon,116)
Im Blick auf die Hörerinnen und Hörer denke ich daran, wie eine Predigt zu dieser Geschichte sehr grundsätzlich männliche wie weibliche Verhaltensstereotypen in Frage stellen könnte. Sicher gibt es Gemeinden, in denen es noch die klassischen Martas gibt, allzeit bereit zum Kaffee kochen und Kuchen backen. Aber gerade auch in der kirchlichen Frauenarbeit scheinen die Martas schon länger ihre Maria-Anteile entdeckt zu haben.
„Die Frauen sind jünger und pragmatischer geworden. Waren es in den Frauengruppen früher die guten Seelen der Gemeinde, die Kaffee kochten und Schnittchen schmierten, so sind es heute die Berufstätigen, die sich zu gemeinsamem Tun treffen möchten, nach dem Motto ‚Pause von zuhause‘.“ (aus der Festschrift „75 Jahre Frauenwerk der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers“). Hier gibt es einen deutlich erkennbaren Trend hin zu Angeboten der Spiritualität und Selbstfürsorge. Die Maria-Seite kann und wird von Frauen in der Kirche offenbar viel stärker gelebt als früher.
Und auch die jüngst wieder aufgeflammte Diskussion um die theologische Legitimation der Frauenordination nach ihrer Abschaffung in der lutherischen Kirche Lettlands im Juni 2016 findet mit Lukas einen prominenten Unterstützer der hörenden (und aus diesem Hören redenden) Rolle der Frauen in der Kirche:
„Er ist glücklich, verkünden zu können, dass Jesus Frauen auf den Weg des Glaubens miteingeladen und sie in seine Schule aufgenommen hat. Er war sicher nicht der Ansicht, dass diesem Glauben, den Maria empfangen hat, der Ausdruck verwehrt werden müsse. Ohne dass er es explizit sagt, hätte er mit Wohlwollen einer Frau zugestanden, das Predigtamt auszuüben.“ (Bovon, 116).
Wir haben heute mehr Marias unter uns. Und jede Maria hat eine Schwester, die Marta heißt. Die schwesterliche Solidarität, die Marta mit dem Umweg über Jesus bei Maria einfordert, bleibt angesichts der weltweiten Diskriminierung von Frauen auch unsere Herausforderung. Wir sind es, die zu Schwestern und Brüdern im Glauben all der Martas auf der Welt werden können, die tatsächlich aufgerieben werden von der Sorge um ihre täglichen Bedürfnisse und der Unmöglichkeit, ihren strukturellen Unfreiheit zu entkommen.