Bilder predigen
Dimensionen des Predigtgeschehens nach der ästhetischen Wende
Das Themenjahr „Bild und Bibel“ 2015 lässt eine gesteigertes Interesse an der Frage erwarten, ob und wie Bilder für die Predigt fruchtbar gemacht werden können. Die Bildpredigt ist längst zu einer eigenen homiletischen Gattung geworden, die allerdings in den vergangenen Jahren etwas in den Hintergrund getreten ist. Wenig bedacht scheint die Frage zu sein, wie sich die Entwicklungen seit der sog. „ästhetischen Wende“ speziell auf die Gattung der Bildpredigt auswirken. Wenn die Predigt ein „offenes Kunstwerk“ (Gerhard Marcel Martin) ist, das vielfältige Rezeptionsprozesse ermöglicht – wie verhält es sich dann mit dem Einsatz von Bildern als gleichsam konkurrierenden Kunstwerken in der Predigt?
Die wichtigste Einsicht, die die ästhetisch grundierten Predigttheorien in den vergangenen Jahrzehnten in die homiletische Diskussion, eingebracht haben, ist eine prinzipielle und umfassende Aufwertung des Hörers/der Hörerin von Predigten.
Sie sind, anders als in bis dato gültigen homiletischen Kommunikationsmodellen, die wenig modifiziert nach dem „Sender-Empfänger“-Prinzip funktionierten, keineswegs passive Empfänger einer Botschaft, die in einer bestimmten Weise bei ihnen „ankommen“ soll, sondern autonome Subjekte.
Ihre Aufgabe ist es, die Predigt dadurch überhaupt erst fertigzustellen, dass sie sie für sich mit Bedeutung füllen. Das Predigtgeschehen kommt erst dann an sein Ziel, „wenn es den Hörer erreicht und von ihm so rezipiert wird, dass er sagen könnte, was das Gehörte für ihn bedeutet. Eine Kanzelrede, die nur an und für sich richtig ist und der bei der Interpretation des Bibeltextes nur keine Fehler unterlaufen sind, bleibt eine unvollständige Predigt, wenn sie den Hörer nicht zur Fortsetzung herausfordert,“[1] beschreibt Wilfried Engemann diese Herausforderung.
Die Autonomie der Hörenden wird in den ästhetisch grundierten homiletischen Ansätzen also nicht argwöhnisch als die Botschaft verfälschend betrachtet, sondern zum Prinzip der Gestaltung der Predigt erhoben. Sie soll Prozesse der Aneignung und Fortsetzung nicht verhindern, sondern ermöglichen und ist ein in diesem Sinne „offenes Kunstwerk“ – offen nicht im Sinne absoluter Beliebigkeit, sondern dadurch, dass verstehende Wahrnehmung ermöglicht wird. Dieses Ernstnehmen der Autonomie der Hörenden ist eine homiletische Haltungsänderung, deren Konsequenzen viel weiter gehen, als es auf den ersten Blick erscheint. Sie ist insbesondere beim Einsatz von Kunstwerken in der Predigt, die ja ihrerseits einen Pfad eigener Rezeptionsprozesse eröffnen, stärker als bislang zu berücksichtigen.
Wenn schon die Hörerinnen und Hörer prinzipiell unberechenbar und autonom sind, gibt es doch etwas, woran sich der Prediger und die Predigerin halten kann: Den auszulegenden Text. Die bibelwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Predigttext nimmt auch im Ergebnis der Predigtarbeit, im Manuskript, erheblichen Raum ein.
In seinen Überlegungen zur „Biblizität der Predigt“ macht Karl Barth als eine maßgebliche homiletische Grundhaltung den Respekt vor dem biblischen Text aus.[2] Predigttexte sind keine Texte, über die gepredigt werden kann. Auch wenn der konventionelle Aufbau der Predigt diese Haltung nahelegt, indem zunächst der Text verlesen wird, um anschließend darüber zu predigen, haben die exegetischen und homiletischen Erkenntnisse der vergangenen Jahrzehnte erheblich dazu beigetragen, mit dem biblischen Text als einem wirklichen Gegenüber ins Gespräch zu kommen. Auch wenn der biblische Text gelegentlich wie ein „fremder Gast“[3] erscheinen mag, handelt es sich bei ihm keineswegs um einen passiv verharrenden, stummen, sondern um einen in vielfältiger Weise beredten Gast. Die Aufgabe des Predigers und der Predigerin besteht darin, ihn als Gesprächspartner ernst zu nehmen, sich anzuhören, was er zu sagen hat und dieses dann in eigener, biblisch inspirierter Sprache weiterzusagen. Das erfordert zuallererst einen Verzicht auf eine (Selbst)darstellung als exegetisch kundige Theologin. Dass ich weiß, was ich weiß, hat ausschließlich eine dem Gelingen der Predigtkommunikation dienende Funktion.
Neben diesen Verzicht tritt als zweite Grundanforderung die Verarbeitung exegetischer Einsichten in der Predigt. Sie können niemals als reine Informationen in der Predigt laut werden, sondern sollen im Sinne eines Verständnisses der Predigt als offenem Kunstwerk Rezeptionsprozesse bei den Hörern anregen und befördern. Daher müssen sie überführt sein in einen Predigtgedanken, eine paraphrasierende Passage, ein sprachliches Bild oder ein Motiv in der Predigt.
Schließlich kann die Verarbeitung exegetischer Einsichten nur in verdichteter Form geschehen. Aus dem Umgang mit biblischen Sprache und ihrer Verarbeitung in der Lyrik lässt sich lernen, dass Sprache von biblischer Sprache gleichsam infiziert sein kann, auch ohne das die Herkunft jeder Wendung explizit deutlich gemacht wird. Gerade der Verzicht auf explizite Erklärung trägt so zum Anliegen der Verdichtung entscheiden bei und erzeugt eine Wirksamkeit von Sprache, die in die Nähe der Wirksamkeit biblischer Texte geraten kann.
Wird nun ein Kunstwerk zum zweiten Text der Predigt, verkompliziert sich die Ausgangssituation für die Predigt. „Beim bekannten homiletischen Dreieck von Text, Prediger und Hörer gibt es drei bilaterale und ein viertes Verhältnis, nämlich das Dreiecksverhältnis insgesamt. Wenn nun ein Werk der bildenden Kunst hinzugenommen wird, sind die Verhältnisse nicht mehr ganz so übersichtlich. Welches Verhältnis entsteht zusätzlich zwischen dem Kunstwerk bzw. dem Künstler und dem Bibeltext? In welchem Verhältnis steht die predigende Person zum Bild? Und was assoziieren Hörerin und Hörer angesichts des Bildes?“[4]
Die für den Umgang mit dem biblischen Text genannten Aspekte gelten ebenso für das in die Predigt integrierte Kunstwerk: Auch exegetische Einsichten kunsthistorischer Art gehören nur sehr bedingt auf die Kanzel. Zu fragen wäre demgegenüber, welche Spannungen das Bild erzeugt, denen nachgegangen werden kann. Wo dienen implizit eingebrachte kunsthistorische Erkenntnisse dem Gelingen der Predigtkommunikation – statt der Selbstdarstellung des Predigenden? Wo erscheinen Ergebnisse der Bildexegese verarbeitet in der Predigt? Ist ein Moment der Verdichtung wahrnehmbar?
Der Prediger und die Predigerin als Verantwortliche für das „Kunstwerk Predigt“ sehen sich nach der ästhetischen Wende in einer durchaus zwiespältigen Doppelrolle. Einerseits erfahren sie eine Aufwertung ihres Selbstverständnisses als Künstlerinnen und Künstler. Sie gehen, wenn man so will, an jedem oder fast jedem Sonntag mit einem eigenen Text auf die Bühne. Andererseits verlangt die besondere Qualität des Kunstwerks Predigt von ihnen, sich in einer bestimmten und vielfach ungewohnten Weise zurückzunehmen. Sie treten damit in den Hintergrund wie die Schöpfer anderer Kunstwerke in Musik, Malerei, Theater oder Film. Maler, Regisseurinnen, Komponisten und Autorinnen sind aber in ihren Werken stets in nicht sichtbarer Weise präsent und verborgen zugleich.
Predigtkünstlerinnen und -künstler können alleine deswegen mit großer Aufmerksamkeit rechnen, weil sie ihr Kunstwerk selbst zur Darstellung bringen und damit sichtbar werden. In der Auslegung biblischer Texte sind sie „wiedererschaffende“ Künstlerinnen und Künstler. Sie erfüllen in dieser anspruchsvollen Mischung aus Selbstbewusstsein und Bescheidenheit den höchst dialektischen Anspruch, dass menschliches Reden von Gott sich immer in der Spannung zwischen Sollen und Nicht-Können bewegt.
An dieser Stelle sei der in diesem Kontext sicher schon lange erwartete kurze Exkurs zur Frage nach der Bedeutung des Bilderverbots eingeschoben. Der speziell der reformierten Konfession zugeschriebenen grundsätzlichen Skepsis gegenüber den Bildern ist nicht nur in der modernen Mediengesellschaft, sondern offenbar schon im 16. Jahrhundert kritisch begegnet worden, auch von Reformierten selbst. Das kann man jedenfalls aus der Frage- und Antwortstruktur des Heidelberger Katechismus in den Fragen 96-98 noch gut heraushören: Wirklich gar kein Bild? Nicht einmal für die, die Schwierigkeiten mit rein sprachlicher Kommunikation haben? Nein, sagt der Katechismus, die Gefahr der Verwechslung des Abgebildeten mit dem Abgebildeten ist zu groß.
Aber bereits für Luther trat die Frage nach dem ontologischen Gehalt gegenüber der Frage nach der Wirkung der Bilder auf ihre Betrachterinnen und Betrachter in den Hintergrund: „Bilder sind dann illegitim, wenn sie im Menschen Ängste auslösen, ihn auf seine Vorfindlichkeit fixieren und damit gleichsam einen Macht-Raum darstellen, aus dem es kein Entrinnen gibt. Deshalb ist es für Luther auch nicht damit getan, die Bilder einfach aus den Kirchen zu entfernen. Durch ein solch äußerliches Verfahren sind die falschen Bilder im Herzen noch lange nicht entfernt.“[5]
Im Anschluss daran formuliert Eilert Herms den Anspruch der evangelischen Kirche, Kirche des Wortes zu sein, wie folgt: „Die Rede von der ‚Kirche des Wortes‘ trifft in erster Linie nicht eine Feststellung über das Medium, sondern über den Grund und den Gegenstand der Glaubenskommunikation.(…) Dass sich die Gemeinschaft der Glaubenden als ‚Kirche des Wortes‘ versteht, heißt also nicht, dass in ihr nur Worte gesprochen werden, sondern nur, dass alle in ihr und von ihr hervorgebrachten Bilder ‚Wort‘ sind.“[6]
Evangelische Kirche in der Mediengesellschaft ist daher keine prinzipiell bilderfeindliche, sondern einem in höchstem Maße bildsensible Kirche. Sie kann aus dieser reflexiven Haltung zu einem angemessenen und naturgemäß auch kritischen Umgang mit Bildern kommen. Die Vermeidung sichtbarer Bilder ist dabei eher ein Anfang als das Ziel dieses anspruchsvollen Unternehmens
Bilder predigen – sie treten automatisch in Konkurrenz zum gesprochenen Wort. Sie sind keine Objekte, sondern autonome Subjekte und verweigern sich dagegen, dass einfach über sie gesprochen wird.Wer sich also für eine Bildpredigt entscheidet, sollte sich überlegen, wie er mit den unterschiedlichen Autonomien in diesem anspruchsvollen Vorhaben umgehen will.Das Bild im Predigtprozess und diejenigen, die es betrachten, ernstnehmen, bedeutet dann zuallererst, nicht länger davon ausgehen zu können, dass eine Bildpredigt weniger Arbeit macht. Sie macht weitaus mehr Arbeit.
So sollten schon „homiletisch aufbereitete“ Bilder als Material für eine Bildpredigt vermieden werden. Eher sind eigene Erfahrungen mit der Wahrnehmung von Kunstwerken dazu geeignet, darüber nachzudenken, wie diese Wahrnehmungserfahrungen sinnvoll und anregend mit anderen geteilt werden können. Bei der Wahl des Kunstwerks kann die Gewichtung zwischen Konventionellem und Ungewohntem durchaus auch einmal auf die Seite des Ungewohnten gelegt werden. In der Bildpredigt selbst sollten Phrasen aus der Bildbetrachtung im Kunstunterricht möglichst vermieden werden. Um die Offenheit der Wahrnehmungsprozesse der Predigthörerinnen nicht einzuschränken, müssen Bewertungen und Kommentare überaus vorsichtig eingesetzt werden.
Das Themenjahr „Bild und Bibel“ ist ein guter Anlass, über die Chancen und Grenzen des Genres „Bildpredigt“ neu nachzudenken. Bilder predigen – und wir predigen nicht über sie, sondern mit ihnen.
(erschienen im Programmbuch des ZfP 2015)
[1] Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, 171.
[2] Vgl. Karl Barth, Homiletik. Wesen und Vorbereitung der Predigt, Zürich 31986, 58-64.
[3] Hans Weder, Neutestamentliche Hermeneutik, Zürcher Grundrisse zur Bibel, Zürich 21989, 428-435.
[4] Hans-Georg Ulrichs, Bilder predigen, Göttingen 2013, 13.
[5] Grözinger, Homiletik, 268.
[6] Eilert Herms, Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992.
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