Die Stimme der Wahrheit
Politisch predigen heute
„Ich habe einen Traum, dass sich eines Tages diese Nation erheben wird und die wahre Bedeutung ihrer Überzeugung ausleben wird: Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen. […]
Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“
Martin Luther Kings „I have a dream“-Rede ist längst in das kollektive Gedächtnis eingegangen. Auch nach mehr als fünfzig Jahren ist es fast unmöglich, sich ihrer Kraft zu entziehen. „Amerika veränderte sich für dich und für mich.“ Sehr schlicht und zurückhaltend fasste Barack Obama anlässlich des 50. Jahrestages der Rede im August 2013 die Wirkung dieser Worte zusammen. Er musste vielleicht auch nicht mehr sagen. Er selbst verkörpert als erster schwarzer Präsident der USA die Neuformulierung des amerikanischen Traums durch Martin Luther King.
Eine Sternstunde der politischen Predigt – die Tatsache, dass es sich bei Martin Luther Kings Rede nicht eigentlich um eine Predigt gehandelt hat, ist dabei wohl zu vernachlässigen, so durchdrungen ist sie von biblischer Sprache und biblischen Zitaten. Viele weitere bemerkenswerte Augenblicke wirksamer politischer Predigt lassen sich für das vergangene Jahrhundert benennen, so beispielsweise die Predigt Helmut Gollwitzers in Berlin nach der Kristallnacht 1938 und weitere Predigten aus der Bekennenden Kirche, die Predigten Desmond Tutus und seiner Mitstreiter im Südafrika der Apartheid oder die Predigten in ostdeutschen Kirchen in der Zeit vor der friedlichen Revolution im November 1989. Die Höhepunkte politischer Predigtkultur scheinen damit deckungsgleich mit Erfahrungen von Unterdrückung und Unfreiheit innerhalb politischer Systeme zu sein. Die Predigt wurde in den geschilderten Zusammenhängen immer dann „politisch“ genannt, wenn sie geeignet war, das jeweils herrschende politische System zu kritisieren und zu hinterfragen. Im homiletischen Diskurs wird die Bezeichnung „politische Predigt“ daher in der Regel auch nur für Predigten gebraucht, die in unterschiedlicher Weise systemkritisch sind oder sein wollen. Die vielen Beispiele systemstabilisierender politischer Predigt, für die in unserem Kontext stellvertretend etwa die Kriegspredigten vor 100 Jahren zu Beginn des 1. Weltkriegs zu nennen wären, erfüllen dieses Kriterium nicht. Eine systemkritisch bestimmte politische Predigt will dagegen die biblische, konsequent systemkritische Haltung der Prophetie in die Gegenwart überführen.
Überall dort, wo Herrschaftssysteme, die auf Unterdrückung und Unfreiheit beruhten, an ihr Ende gekommen waren, bedeutete das allerdings sehr oft das Ende der in dieser Weise politischen, prophetisch orientierten Predigt. „Wohin sind all die Propheten verschwunden?“ fragt sich nicht nur die amerikanische Homiletikerin Nora Tubbs-Tisdale in ihrem 2010 erschienenen Buch Prophetic preaching. A pastoral approach.
Die politisch-prophetische Dimension der Predigt in das homiletische Bewusstsein zu rufen war auch das Ziel der gesellschaftskritisch engagierten Theologie der 1970er und 1980er Jahre im Westen Deutschlands. Mit gleichem, meistens sogar höherem Anspruch (aber weit weniger von persönlichen, existenziellen Erfahrungen mit Unfreiheit und Unterdrückung bestimmt) etablierte sich parallel zu den gesellschaftlichen Umbruchsbewegungen eine Kultur der systemkritischen politischen Predigt. Die politischen Themen, die in den westdeutschen Predigten aus dieser Zeit angesprochen werden, verhandelten die Fragen des konziliaren Prozesses nach Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung in einer ständigen Spannung zwischen hohem ethischem Anspruch und der Frage nach der konkreten Umsetzung dieses Anspruchs. Diese Predigttradition reklamierte auch die Bezeichnung „politische Predigt“ weitgehend für sich. Jedoch erstarrten der Begriff und auch die in dieser Weise verfertigten Predigten erstaunlich schnell zum Stereotyp. Das Pathos der 68er-Bewegung konnte offenbar nicht in überzeugender Weise homiletisch transformiert werden. „Wer nur zuschaut und schweigt, macht sich schuldig“ (Heinz Eduard Tödt): Viele Versuche von Predigern und ersten Predigerinnen, dieser Aporie zu entgehen, stießen in den Gemeinden und auch in der Gesellschaft eher auf Ablehnung. Mit dem Zusammenbruch der politischen Systeme im Europa des ausgehenden 20. Jahrhunderts verstummte dann diese Predigttradition mehr und mehr.
Im Zeitalter konkurrierender politischer Systeme und in einer noch säuberlich aufgeteilten Welt waren die Herausforderungen für politische Predigt allerdings im Vergleich zu heute noch recht überschaubar. Es war leicht, sich zu positionieren und gegen etwas zu sein. Nach der politischen Wende in Europa um 1989 und dem Zuschnappen der „Globalisierungsfalle“ spüren Predigerinnen und Prediger zwar noch immer den Anspruch, politisch zu predigen. Sie tun sich in der Zeit der neuen Unübersichtlichkeit aber erheblich schwerer, ihn in Predigten auch umzusetzen. Doch jede Predigt ist politisch, sofern sie der realen Lebenssituation von Menschen Einlass gewährt. Und jede Predigt ist auch deswegen politisch, weil sie von der Wirklichkeit Gottes spricht, die mit der Wirklichkeit der Welt in vielfältiger Weise in Spannung steht. Wie kann politische Predigt als „Stimme der Wahrheit“ heute laut werden?
Zunächst ist von Predigerinnen und Predigern eine geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit gefordert. Es ist sehr leicht, viele gesellschaftliche und politische Herausforderungen zu benennen und in Listen und Katalogen zusammenzustellen, die die Hörer erschlagen. Statt aber in entmutigender Weise die Vielzahl der Probleme aufzuzählen, muss eine politisch ambitionierte Predigt heute vor allem genau hinsehen und im Blick auf das große Ganze einen Blick für die Details entwickeln. Wo wird das große Problem, zu dem ich Stellung nehmen will, klein? Kann ich von Menschen erzählen, die von diesem Problem ganz konkret herausgefordert sind? Gehöre ich möglicherweise selbst dazu? Und bin ich bereit mir einzugestehen, dass ich angesichts der Komplexität vieler Herausforderungen in der globalisierten Welt an den Rand meiner ethischen Urteilsfähigkeit geraten kann?
Zur Wahrnehmungsfähigkeit gehört gerade in der Unübersichtlichkeit der Postmoderne aber auch eine geschärfte Form von Wachsamkeit. Politische Predigt hat ihre stärkste Kraft zweifellos immer in Systemen von Unterdrückung und Unfreiheit entfalten können. Im Dritten Reich, im Südafrika der Apartheid und im Herbst 1989 in Deutschland war es leicht, die Differenz zwischen der Wirklichkeit Gottes und der Wirklichkeit der Welt zu benennen. Aber auch innerhalb dieser Unrechtssysteme gab es Phasen, in denen noch nicht oder nicht klar zu erkennen war, ob und wie sich politische Anschauungen und gesellschaftliche Entwicklungen mit dem christlichen Glauben vereinbaren ließen. Und auch in der neuen Unübersichtlichkeit gibt es lichte Momente, in denen sich tatsächlich schuldig macht, wer schweigt. Die klare Position, zu der die evangelische Kirche in den vergangenen Jahren im Blick auf das Problem des Rechtsextremismus gelangt ist, kann ein Beispiel dafür sein. Von der Haltung der Wachsamkeit sind wir auch innerhalb einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht automatisch entbunden.
Wachsam zu sein und zu bleiben gelingt insbesondere dort, wo sich die Predigt eng auf biblische Texte bezieht. Sie benennen die „Differenzen zwischen der Ordnung Gottes und den unordentlichen Verhältnissen in Kirche und Gesellschaft“ (Wilfried Engemann). Anders, als es vielfach in der westdeutschen politischen Predigttradition geschah, können biblische Texte aber nicht als argumentatives Potential für eigene politische Überzeugungen instrumentalisiert werden. Sie bringen ihre eigenen Themen mit und schaffen damit eine bisweilen sehr unangenehme Eindeutigkeit in einer unübersichtlich gewordenen Welt.
Gleichzeitig stellen biblische Texte Bilder zur Verfügung, die entschlossen die vorfindliche Wirklichkeit überschreiten. Von diesem Überschuss an Hoffnung ist wirksame politische Predigt schon immer gekennzeichnet gewesen. Dass man mit der Bergpredigt sehr wohl Politik machen kann – vielleicht nicht als Regierung, aber als Volk – zeigen die Erfahrungen mit der politischen Wende von 1989. Das politische Potenzial biblischer Texte muss aber auch auf die Herausforderungen der Gegenwart bezogen werden. Die Frage nach dem Umgang mit Flüchtlingen und Asylsuchenden an Europas Außengrenzen wäre als Thema zu nennen, auch die vielzitierte Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich. Überhaupt scheint sich (nicht zuletzt durch die Impulse, die von Papst Franziskus ausgehen) auch in unserem Kontext momentan so etwas wie eine erneuerte „Theologie der Armut“ zu etablieren. Dass es eine „vorrangige Option Gottes für die Armen“ gibt, wie es die lateinamerikanische Befreiungstheologie im vergangenen Jahrhundert festgestellt hat; dass die Armen die „Lieblinge Gottes“ sind, kann auch angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen im Deutschland des 21. Jahrhunderts neu diskutiert und in Predigten zur Sprache gebracht werden.
Die Wirkung einer Predigt, die sich als politisch versteht, hängt von der Sprache ab, die sie spricht. Das eingangs zitierte Beispiel einer Predigt, die die Welt verändert hat, zeigt einmal mehr, dass eine Predigt offenbar mehr bieten muss als Wahrnehmung des Problems, Prüfung von Lösungswegen und konkrete Handlungsorientierung. Die unzähligen schlechten Beispiele für eine politische Predigt, die mit prinzipiell unerfüllbaren ethischen Weisungen endet und eine Handlungsorientierung gibt, die die praktischen Konsequenzen des geforderten Handelns vollkommen ausblendet (vgl. Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen, Neukirchen-Vluyn 1990, 104f.), lassen nach Alternativen suchen.
Neuere homiletische Ansätze rechnen entschlossen mit der Autonomie der Hörerinnen und Hörer. Dieses Prinzip ist nicht nur ästhetisch, sondern auch ethisch zu verstehen. Konsequenzen für das eigene Tun oder Lassen zu ziehen ist dann nicht länger die Aufgabe des Predigers oder der Predigerin, sondern bleibt die Aufgabe derer, die ihm oder ihr zuhören. Dabei kommt der protestantisch gut etablierten Kategorie des Gewissens eine neue Bedeutung zu. Papst Franziskus sprach bereits einige Monate vor der Katastrophe im Mittelmeer vor Lampedusa von einer Globalisierung der Gleichgültigkeit. Er fragte. „Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unterhalten zu können?“ Das Gewissen sitzt irgendwo zwischen Kopf und Herz. Es wird angerührt nicht von Appellen, sondern von einer berührenden Predigtsprache. Politische Predigt braucht den Mut und die Fähigkeit, Emotionen zu wecken. Das ist eine in unserer Predigttradition bislang noch etwas unterbestimmte Kategorie. Und dabei geht es nicht immer nur um Betroffenheit, sondern auch um die befreiende Kraft des Humors. Auf die Torheit des Evangeliums angesichts des „Wahns der Welt“ (Wilfried Engemann) und die homiletischen Mittel von Humor und Ironie haben zuletzt eindrucksvoll Charles Campbell und Johan Cilliers hingewiesen, letzterer vor dem Hintergrund der politisch-prophetischen Predigttradition im Südafrika der Apartheid. Die politische Predigt heute ist die leise, aber eindringliche Stimme der Wahrheit. Sie spricht genau und wachsam, biblisch bildreich und anrührend von den Dingen, wie sie sind – und wie sie nach Gottes Willen sein sollen. Und wer dabei nur zuschaut und schweigt, macht sich schuldig.
Zum Weiterlesen:
Andrea Bieler/Hans Martin Gutmann, Die Rechtfertigung der Überflüssigen, Gütersloh 2008.
Charles L. Campell/Johan H. Cilliers, Preaching fools. The Gospel a a Rhetoric of Folly, Waco 2012.
(erschienen im Programmbuch des ZfP 2014)
Hier das Dokument downloaden.