Predigen mit den Reformatoren
Orte des Wortes
„Der Ort des Wortes“ heißt die Lichtinstallation, die seit kurzem in der Wittenberger Stadtkirche zu sehen ist. Am ursprünglichen Standort der Kanzel vorne links im Kirchenschiff erinnern Projektionen von Lutherzitaten daran, dass diese Kirche die Predigtkirche Martin Luthers gewesen ist. Die ursprüngliche Kanzel ist noch vorhanden, sie befindet sich allerdings mittlerweile im Lutherhaus. Dort erscheint sie im milden Schein des sorgfältig dosierten musealen Lichts überraschend fragil. Kaum vorzustellen, wie der stets als so gewichtig beschriebene Reformator sie erklommen und von dort gepredigt haben soll. Man hört beim Betrachten dieser Kanzel förmlich das Ächzen der hölzernen Konstruktion. Oder predigte Luther ohnehin stets in der statuarischen Ruhe, in der die berühmte Predella des Reformationsaltars ihn zeigt? Die eine Hand im Buch, in der Bibel, die andere auf den gekreuzigten Christus weisend, als flösse nur durch den Prediger hindurch, was nicht aus ihm selbst kommt und was im sonderbar leeren Raum zwischen Gemeinde und Prediger allen Beteiligten den gekreuzigten Christus vor Augen malt? Dieses Bild ist von der in der Stadtkirche versammelte Gemeinde sicher nicht nur als eine Darstellung der Predigt als Fundament des neuen Glaubens und Illustration des 7. Artikels der Confessio Augustana verstanden worden.[1] Es kann durchaus auch als ein Epitaph für den am 22. Februar 1547 in der Schlosskirche bestatteten Prediger der Stadtkirchengemeinde gelesen werden, als eines unter den zahlreich in der Stadtkirche vorhandenen Epitaphe aus der Cranach-Werkstatt. Kurz nach dem Tode Luthers fertiggestellt, zeigt die Predella des Reformationsaltars an prominenter Stelle Martin Luther so, wie ihn seine Gemeinde in Erinnerung behalten wollte: Als ihren Prediger, der über 40 Jahre lang einen Predigtauftrag in St. Marien wahrgenommen hat.[2]
Weitaus tragfähiger als die ursprüngliche wirkt auf jeden Fall die heutige Kanzel in der Stadtkirche, zu der eine kleine Treppe führt. Die reiche Vergoldung ihrer ansonsten eher schlichten Formen gibt jeder von dort gehaltenen Predigt einen würdevollen, dem historischen Ort angemessenen Rahmen – und dem Prediger, der Predigerin einen guten Stand in diesem Kirchenraum, der einst von der Stimme Martin Luthers erfüllt gewesen ist. Das Grab Luthers in der Schlosskirche wurde seinerzeit unter der Kanzel ausgehoben. Auch nach der weitgehenden Zerstörung der Kirche im Siebenjährigen Krieg wurde das Grab Luthers bei der Neugestaltung der Kirche im 19. Jahrhundert an dieser Stelle belassen. Die Säule, die diese Kanzel heute trägt, ragt wie aus Luthers Grab hervor. Und kaum ein Prediger, eine Predigerin kann sich ganz frei machen von dem Gefühl, dass das an diesem Ort gesprochene Wort in besonderer Weise durchdrungen sein müsste von dem Geist dessen, der da unter der Kanzel ruht.
Diese symbolisch aufgeladenen „Orte des Wortes“ am Ursprungsort der Reformation regen im Blick auf unser gegenwärtiges Predigen dazu an, danach zu fragen, welche homiletischen Akzentuierungen aus der Zeit der Reformation in der Gegenwart von Bedeutung sein können: Was bedeutet es heute, nicht nur über die Reformation zu predigen, sondern reformatorisch? Was heißt es, im Geiste der Reformatoren Kanzeln zu betreten und Räume mit Worten zu füllen? Was bleibt dabei bloße Projektion, was wird zum lebendigen Porträt, wie auf einem Epitaph, und zeigt etwas vom Predigen in der Zeit der Reformation? Es darf aber auch die Frage nach falscher Ehrfurcht angesichts großer Verstorbener gestellt werden. Und es soll nach der Möglichkeit gesucht werden, als evangelischer Prediger, als evangelische Predigerin heute einen eigenen Stand zu gewinnen und die eigene, unverwechselbare Stimme laut werden zu lassen.
„Sonst habe ich nichts getan“ – Von der Wirksamkeit des Wortes
„Das neue Verständnis der Heilszueignung in der Dialektik von Wort und Glaube führte zu einer völligen Neubestimmung des Gottesdienstes und damit auch der Predigt als Zentrum der kirchlichen Praxis. Sie bestimmt das Leben der evangelischen Kirche bis heute.“[3] Die zentrale Bedeutung, die die Predigt in der Reformationszeit in der „Kirche des Wortes“[4] gewonnen hat, kann kaum zurückhaltender ausgedrückt werden. Martin Luthers reformatorische Entdeckung ist in ihrem Kern eine „Erfahrung der Freiheit, die an einem Text gemacht worden ist. (…) Luther hat nie vergessen, dass die reformatorische Grunderfahrung der Freiheit eine Erfahrung ist, die aufs Engste mit der Sprache verknüpft ist.“[5] Diese persönliche Erfahrung ist die Grundlage aller Überlegungen Luthers zur Wirkung des Wortes und zur Bedeutung der Predigt bis hin zu ihrer späteren ekklesiologischen Ausformung in der Confessio Augustana.[6] Wie genau das (in der Predigt mitgeteilte) Wort den Rechtfertigungsglauben entstehen lässt, ist Gegenstand differenzierter systematisch-theologischer Betrachtung und kann an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden.[7] Ausgehend vom Verständnis dieses Prozesses als einer „Bildungsgeschichte des Herzens“[8] wird aber deutlich, dass Erfahrungen mit der Wirkung des Wortes der Predigt vorausgehen müssen, um das nötige Zutrauen in diese in der Mediengesellschaft vielfach hinterfragte Wirkung (neu) zu gewinnen. Ein Prediger, eine Predigerin muss, um auf die Wirkung von Worten heute vertrauen zu können, selbst Erfahrungen mit dieser Wirkung gemacht haben – als begeisterter und bewegter Leser, als Hörerin, von biblischen Texten, aber auch von allen anderen Texten, die geeignet sind, eine vergleichbare „affektbestimmende Gewißheit“[9] zu etablieren. Eine Predigerin muss lesen und/oder hören und zwar Texte, die sie bewegen, berühren, und begeistern. Was sie liest, ist fast egal, Poesie und Prosa, Nachrichtenmagazin und Bestseller, Klassiker und Neuerscheinungen, auch Songtexte und Poetry-Slam. Für die Vielfalt der Themen und literarischen Gestaltungen ist die Bibel selbst ein gutes Beispiel. Nicht von ungefähr kann deswegen die jüdische Tradition des leidenschaftlichen Lesens ein Vorbild für Predigerinnen und Prediger werden.[10] Nur wer die Wirkung von Worten und Texten, von Sprache an sich selbst erfahren hat, wird auch in der Lage sein, sie an andere weitergeben zu können. Im Blick auf die „Bildungsgeschichte des Herzens“ muss dabei neben den kognitiven auch der emotional-affektive Gehalt von Sprache treten.[11] Nicht nur überzeugende Gedanken und Argumente, sondern auch und gerade Erfahrungen und Gefühle werden in der Predigt sprachlich vermittelt. Die Sprachkraft Martin Luthers ist einzigartig und reicht durch seine Bibelübersetzung weit über die Grenzen von Theologie und Kirche hinaus. In den Bemühungen um eine Revision der Lutherbibel anlässlich des Reformationsjubiläums wird deutlich, dass offenbar – ganz anders als bei den Revisionsbemühungen im vergangenen Jahrhundert – gegenwärtig ein neues Bewusstsein für die sprachliche Qualität und sprachprägende Kraft der Lutherübersetzung entstanden ist. „Auffällig wird in jedem Fall sein, dass die Revision vermutlich in bis zu einem Drittel der Fälle wieder zu Luthers Formulierung zurückkehrt, weil sie philologisch genauer war und heute noch gut verständlich ist.“[12] Auch im Blick auf die Predigt ist Luthers Vertrauen in die Kraft des Wortes beinahe unbegrenzt. Dies wird insbesondere an den Invokavitpredigten deutlich, die als eminent politisch wirksame Predigten im Frühjahr 1522 die Wittenberger Unruhen beendet haben. Den Taten in Wittenberg hat Luther damals nichts als Worte folgen lassen, damals noch ganz gemäß dem später formulierten reformatorischen Grundsatz sine vi sed verbo[13] (). In einer durchaus gelassenen, entspannten Haltung trat er der herrschenden Aufregung entgegen. In seinen Predigten kommentiert er das sogar: „Ich bin dem Ablaß und allen Papisten entgegen gewesen, aber mit keiner Gewalt, ich habe allein Gottes Wort getrieben, gepredigt und geschrieben, sonst habe ich nichts getan. Das hat, wenn ich geschlafen habe, wenn ich Wittenbergisch Bier mit meinem Philipp und Amsdorff getrunken habe, so viel getan, daß das Papsttum so schwach geworden ist, daß ihm noch nie ein Fürst noch Kaiser so viel Abbruch getan hat. Ich hab nichts getan. Das Wort hat es alles gewirkt und ausgerichtet.“[14]
Diese Gelassenheit und dieses Vertrauen in die Wirkung ihrer Worte fehlen heutigen Predigerinnen und Predigern gelegentlich. Angesichts konstant kleiner oder sogar sinkender Besucherzahlen im Gottesdienst mag das durchaus berechtigt sein. Doch ohne ein grundsätzliches Vertrauen in die Wirkung seines und ihres gesprochenen Wortes kann niemand auf eine Kanzel steigen. „Des Evangeliums Natur und Art ist, daß wo es gepredigt wird, da hats drei verlorne Schüler und der vierte erst ist gut und fromm. Und ist doch die Schuld weder des Worts noch des, der es führt oder predigt.“ So tröstet Luther in einer Predigt zum Gleichnis vom Sämann einmal die Predigenden aller Zeiten – und nicht zuletzt wohl auch sich selbst.[15] Neues Vertrauen in die Wirkung des Wortes und der eigenen Predigtworte zu gewinnen, ist deswegen eine – vielleicht die wichtigste – Voraussetzung für ein Predigen im Geist der Reformation.
„Brei und Ei und Mutterbrust“ – Vom Sprechen in Bildern
Martin Luther hat zeit seines Lebens deutlich unterschieden zwischen der Ebene des akademisch-theologischen Diskurses und der Art und Weise, in der er theologische Einsichten in der Predigt an seine Hörerinnen und Hörer vermittelt hat. Als Beispiel dafür seien abermals seine Invokavitpredigten genannt, die an Bilderreichtum und Sprachkraft auch nach fast 500 Jahren nichts von ihrer Wirksamkeit eingebüßt haben. Luther wählt darin auffällig sinnliche Bilder, um seine theologischen Anliegen zu transportieren. So erfindet er das „Gleichnis von der nährenden Mutter“, um zu beschreiben, wie auf dem Weg der neuen Freiheit alle mitgenommen werden können: von Brei und Ei und Mutterbrust ist hier die Rede. Die Liebe wird zu einer handelnden Person. Luther will „die Herzen fangen“ und spricht von Gott als „glühendem Backofen voller Liebe“, einem auch in der Ambivalenz von Anziehung und Gefahr beeindruckendem Sprachbild von Gottes Wesen.[16] Seine Überzeugung, dass die Orientierung an menschlicher Erfahrung auch sprachlich die Voraussetzung einer wirksamen Predigt ist, leitet Luther offenbar aus dem Vergleich mit der Verkündigung Jesu her: insbesondere Wirkungsweise der Gleichnisse: „Man muß nicht predigen und tapfer mit großen Worten prächtig und kunstreich herfahren, daß man sehe, wie man gelehrt sei, uns seine Ehre suchen. Hier ist nicht der Ort dafür. Man soll sich den Zuhörern anpassen; und das ist der allgemeine Fehler aller Prediger, daß sie predigen, daß das arme Volk gar wenig draus lernt. Einfältig zu predigen ist eine große Kunst. Christus tuts selber; er redet allein vom Ackerwerk, vom Senfkorn usw. und braucht eitel grobe, bäurische Gleichnisse.“[17] Die Kraft von sprachlichen Bildern in der Predigt und die Frage, wie solche Sprachbilder wirkungsvoll gestaltet werden können, bestimmt seit knapp 20 Jahren auch die homiletische Diskussion in Deutschland. „Einander ins Bild setzen“, lautet nicht zufällig der programmatische Titel des Impulses von Martin Nicol, der ausgehend von der „homiletischen Revolution“ in Nordamerika in den 1960er Jahren die dort vertretenen neuen Ansätze für den deutschen Kontext zugänglich gemacht hat. Unter dem Begriff „Dramaturgische Homiletik“ sind sie nicht nur im universitären Kontext, sondern auch in der Aus- und Fortbildung bekannt geworden.[18] Diese einflussreiche homiletische Theorie reiht sich ein in die rezeptionsästhetisch grundierte Neuorientierung in der Predigtlehre seit dem Beginn der 1990er Jahre. Sie hat aber von Beginn an und auch im Unterschied zu anderen ästhetischen Predigttheorien einen besonderen Akzent auf formal-homiletische Überlegungen gelegt. Ausgehend von der prinzipiell-homiletischen Überzeugung, dass die Predigt ein Kunstwerk ist, fragen Martin Nicol und Alexander Deeg danach, wie ein solches Predigtkunstwerk sprachlich gestaltet werden kann. Dieser pragmatisch-handwerkliche Zugang zum Predigen hat im Lauf seiner Entwicklung eine „homiletische Revolution“ auch in Deutschland initiiert, die in Einrichtungen wie dem Atelier Sprache e.V. in Braunschweig und dem 2009 im Rahmen des Reformprozesses der EKD gegründeten Zentrum für evangelische Predigtkultur in Wittenberg bereits ihren institutionellen Ausdruck gefunden hat. Die Bemühung um die Predigt, die Stärkung ihrer Sprachkraft und Bildlichkeit haben, so viel lässt sich bereits jetzt sagen, auch ein neues Bewusstsein und eine neue Motivation für die Möglichkeiten der Weiterarbeit an den eigenen sprachlichen und performativen Fähigkeiten bei Predigenden eröffnet. „Eine Predigt soll nicht von Trost reden, sondern trösten“ – auf diese kürzeste Formel bringt Martin Nicol die Anregungen aus den new homiletics, dem homiletischen Neuansatz in Nordamerika. Sie geht von einer grundlegenden Wende im Predigtgeschehen aus und sucht Wege von der deduktiven zur induktiven Predigt, vom RedenÜber zum RedenIn.[19] Damit ist auch ein zentrales Anliegen Martin Luthers aufgenommen, eine Predigt deutlich und vor allem in der Wahl ihrer sprachlichen Mittel von der akademischen Vorlesung zu unterscheiden. Dieses Anliegen ist im Zuge der Systematisierung der reformatorischen Homiletik vor allem durch Philipp Melanchthon wieder in den Hintergrund getreten. Seine Aufnahme antiker Rhetoriktraditionen schuf zwar die handwerkliche Grundlage für die Ausbildung der Prediger. Melanchthons vorrangiges Verständnis der Predigt als Lehre verwischte aber Luthers deutliche Unterscheidung zwischen Lehre und Predigt wieder. Durch die Betonung des Unterrichtscharakters der Predigt besteht seit Melanchthon außerdem die Gefahr, die hörende Gemeinde eher wie eine Schulklasse und damit prinzipiell defizitär wahrzunehmen – eine problematische Sichtweise, die sich dennoch über Jahrhunderte hielt.[20]
„…ist unter ihnen kein Unterschied“ – Die Rolle der predigenden Person
Wenn es in der Predigt darum geht, Erfahrungen des Glaubens miteinander zu teilen, anstatt Wissen und Informationen über den Glauben zu vermitteln, wie es die neueren homiletische Theorie und Praxis nahelegt, dann werden damit auch tradierte Kommunikationsmuster im Predigtgeschehen aufgebrochen. Die Predigt kann nicht länger eine top-down-Kommunikation von oben nach unten sein, von der mühsam erklommenen Kanzel hinab in die Bänke. Der Prediger, die Predigerin predigt heute „as one without authority“.[21]
Die Predigt wird im Sinne des Verbs homilein („sich unterhalten“) tatsächlich zu einem Austausch von Erfahrungen. Dabei stehen die Hörerinnen und Hörer dem Prediger und der Predigerin „in Bezug auf ihre geistliche Reife (…) in nichts nach“[22]. Diese Gleichberechtigung zwischen Gemeinde und predigender Person haben die neueren homiletischen Theorien im deutschen Kontext noch einmal verstärkt durch die Aufnahme rezeptionsästhetischer Theorien bewusst gemacht. Dem Hörer kommt danach eine entscheidende Rolle im Predigtprozess zu.[23] Das entspricht auch Luthers Überzeugung, alle Christen seien „wahrhaftig geistlichen Standes und ist unter ihnen kein Unterschied außer allein des Amts“[24]. Predigerinnen und Prediger geraten durch die Betonung dieser Gleichwertigkeit in eine bisweilen ungemütliche Position. Der Prediger und die Predigerin als Verantwortliche für das „Kunstwerk Predigt“ sehen sich nach der ästhetischen Wende heute in einer durchaus zwiespältigen Doppelrolle. Einerseits erfahren sie, insbesondere nach der verstärkten Wahrnehmung des aktiv-expressiven Aspekts der Ästhetik, eine Aufwertung ihres Selbstverständnisses als Künstlerinnen und Künstler. Sie gehen, wenn man so will, an jedem oder fast jedem Sonntag mit einem eigenen Text auf die Bühne. Sie sind gehalten, neben ihren sprachlichen, rhetorischen und performativen Kompetenzen auch eine gewisse Lust an der Selbstentblößung mitzubringen, um den Anspruch an Glaubwürdigkeit und Authentizität gerecht werden zu können. Gleichzeitig sollen sie aber in dem Kunstwerk Predigt verschwinden und nicht durch das aufdringliche Einbringen und Zur-Schau-Stellen ihrer eigenen Person Rezeptionsprozesse der Hörerinnen und Hörer erschweren. Selbst ihre unzweifelhaft vorhandene exegetische Konsequenz soll nur mehr implizit ihre Wirkung entfalten, weil es auf der Kanzel nicht um theologische Lehre gehen kann. In der gegenwärtigen Phase der Begeisterung für ästhetische Predigttheorie und -praxis darf nicht aus dem Blick geraten, dass das Kunstwerk Predigt trotz unzweifelhaft vorhandener Analogien zu verwandten Künsten ein Kunstwerk sui generis ist. Maler, Regisseurinnen, Komponisten und Autorinnen können selbst darüber entscheiden, in welcher Intensität sie als Personen in ihrem Werk präsent sein wollen. Das Kunstwerk Predigt kann auf die Sichtbarkeit der predigenden Person dagegen nicht verzichten. Im Blick auf die reformatorische Predigtpraxis gehört die Kategorie der Erfahrung in die Predigt seit Martin Luther neu hinein. Sie ist Erfahrung der predigenden Person, eine Erfahrung die alle gern gesuchten Beispiele in der Predigt durchdringen muss, damit diese tatsächlich Wirkung entfalten können: „Die exemplifizierende Kraft des Beispiels liegt vielmehr gerade darin, an der eigenen Individualität das für jeden anderen individuellen Fall gültige sichtbar zu machen.“[25] Von daher muss sich jede nach ästhetischen Formprinzipien arbeitenden Predigerin und jeder Prediger fragen lassen, in welcher Weise er oder sie in ihrem Predigtkunstwerk sichtbar wird. Wo dies nicht geschieht, bleiben auch hohen sprachlichen Ansprüchen genügende Predigtpassagen letztlich wirkungslos, da es ihnen an identifikatorischem Potenzial fehlt. Sichtbar wird die Frage nach der predigenden Person besonders in der Frage nach dem Ich auf der Kanzel. „Demokratisch wird eine Predigt, die auf objektivierte Deus-dixit-Sätze verzichtet, weil erst auf dieser Basis ihre Aussagen diskussionsfähig werden. Und dialogisch wird sie deswegen, weil nicht das verallgemeinernde Wir, sondern erst das Ich zu einer Antwort mit der eigenen Ich-Aussage einlädt. Gegen den Pfarrer, der Wir sagt, kann ein mündiger Predigthörer nur aufbegehren und protestieren. Gegenüber einem Pfarrer, der Ich sagt, wird der Hörer überlegen, was er in dieser Hinsicht als eigenes Ich zu bemerken hat.“[26] Mit seinem Überlegungen zum Ich auf der Kanzel hat Manfred Josuttis 1974 die durch die Einwände der Dialektischen Theologie gegen das Ich auf der Kanzel unterbrochene Diskussion über die predigende Person neu angestoßen.[27] In der gegenwärtigen homiletischen Diskussion zeichnet sich ab, dass nach der Phase der Textorientierung aufgrund des Einflusses der Dialektischen Theologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dem Akzent auf der Hörerorientierung nach der empirischen Wende der 1960er Jahre und der ästhetischen Wende mit dem Fokus auf dem „Sprachkunstwerk“ Predigt um 1990 gegenwärtig ein neues Interesse an der predigenden Person spürbar wird. Das war zur Zeit der Reformation nicht anders. Die Predigten Martin Luthers sprechen das Ich, aber vor allem auch das Du mit neuer Intensität aus. Diese Anredeform in der Predigt ist unter den Bedingungen der Moderne als personale Kompetenz wiederzugewinnen, mit der Fähigkeit, „eine Predigt im Bewusstsein sowohl der Grenzen wie auch der Möglichkeiten seiner Persönlichkeitsstruktur erarbeiten zu können, und dem Evangelium so einen der eigenen Person angemessenen, d.h. mit ihr verbundenen Ausdruck zu geben.“[28] Dieses Ziel zeichnet sich am Horizont der homiletischen Theoriebildung und auch in der Praxis bereits als Herausforderung ab und interpretiert damit einen Grundzug reformatorischer Predigtpraxis gegenwärtig neu.
„Die Heilige Schrift meine niemand genügsam geschmeckt zu haben“ – Predigt als Textauslegung
Die Textorientierung der reformatorischen Predigt hat das Konzept der sola scriptura in die Praxis überführt. Die Auslegung biblischer Texte, „gereinigt von allen Produkten der Legende und der religiösen Phantasie“[29] wird seit der Reformation zum Markenzeichen protestantischer Predigt. An dieser Stelle ist insbesondere die reformierte Tradition noch über die deutschen reformatorischen Ansätze hinausgegangen. Besonders Ulrich Zwingli wird die Begründung der fortlaufenden Auslegung biblischer Bücher zugeschrieben, die sog. lectio continua, die gegenüber den Einschränkungen bei der Textauswahl durch die Perikopenordnung eine Ausweitung der homiletischen Arbeit auf die ganze Heilige Schrift bedeutete.[30] Reihenpredigten finden sich allerdings auch schon bei Luther. Eine vergleichbare Erweiterung der Textgrundlage der Predigt findet sich auch bei Calvin, der korrespondierend mit seinen theologischen Vorstellungen des Bundes, die Einheit der Heiligen Schrift Alten und Neuen Testaments stark betont. Insofern nehmen die gegenwärtigen Bemühungen um eine Revision der Perikopenordnung, die zu ihren Zielen eine stärkere Gewichtung alttestamentlicher Texte und eine Erweiterung des biblischen Zeugnisses von Gott zählen, kurz vor dem Reformationsjubiläum ein zentrales reformatorisches Anliegen neu auf. Vielleicht ist damit auch die Chance verbunden, den von Luther eingeführten und allzu oft fehlinterpretierten Gegensatz von Gesetz und Evangelium neu für unsere Gegenwart auszulegen. „Die Predigt des Gesetzes und die Predigt des Evangeliums bilden eine Einheit, die trotz oder wegen ihrer Widersprüchlichkeit eine innere Unterscheidung nötig macht, aber nicht auseinandergerissen werden darf. […] Luther hat es als die höchste und nie endgültig (auch von ihm selbst nicht) gelöste Aufgabe des Theologen und Predigers angesehen, an dieser Unterscheidung zu arbeiten.“[31] Den Respekt der Reformatoren vor dem Reichtum der Bibel und die Liebe und Sorgfalt, mit der sie die biblischen Texte neu übersetzten, auslegten und predigten, haben auch nach Jahrhunderten nichts von ihrer Kraft verloren. Leidenschaftliche Predigerinnen und Prediger werden dem berühmten letzten Worten Luthers nur zustimmen können: „Die Heilige Schrift meine niemand genügsam geschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit Propheten wie Elias und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert. Versuche nicht diese göttliche Aeneis, sondern neige dich tief anbetend vor ihren Spuren! Wir sind Bettler, das ist wahr.“[32]
Viva vox evangelii – Die Predigt als Ereignis
„Der Glaube kommt aus dem Hören“ ist eines der Zitate Luthers, das an den „Ort des Wortes“ in der Wittenberger Stadtkirche projiziert wird. Es erinnert daran, dass jede Predigt ein unwiederbringliches Ereignis ist. Es gewinnt seine Kraft aus dem Zusammenwirken von predigender Person und der Gemeinde in einer spezifischen Situation und mit dem Wirken des Heiligen Geistes und ist grundsätzlich nicht wiederholbar. Die Predigt bleibt die lebendige Stimme des Evangeliums. Sie entsteht und vergeht wie jedes andere gesprochene Wort und entfaltet ihre sichtbaren und unsichtbaren Wirkungen in den Köpfen und Herzen derer, die sie hören. Der Wunsch, die Predigtkultur der Reformationszeit authentisch nachzuvollziehen, scheitert also nicht zuerst an der – in der Tat – dürftigen Quellenlage der Predigtmanuskripte, sondern vor allem an diesem grundsätzlichen Ereignischarakter der Predigt. Auch an einem so authentischen Ort wie der Stadtkirche in Wittenberg kommen wir der Predigtpraxis der Reformatoren nicht wirklich nahe. Das Wissen, dass in Mauern dieser Kirche die Stimmen von Martin Luther und Johannes Bugenhagen erklungen sind, muss uns genügen. Und die Gewissheit, dass auch die Predigtmanuskripte der Reformatoren ebenso wie die vielen Predigtnachschriften sich mit Sicherheit vom gesprochenen Wort unterschieden haben werden. Die lebendige Gestalt, in der das Evangelium unter uns ausgebreitet wird und die Unverfügbarkeit des Predigtgeschehens sind darin zu erkennen. Martin Luther fasst es so zusammen: „Gott ist wunderbar, der uns Predigern das Amt seines Wortes befiehlt, mit dem wir die Herzen der Menschen regieren sollen, welche wir doch nicht sehen können. Aber es ist unsers Gottes Amt, der spricht zu uns: Predige du, ich will das Gedeihen dazu geben, ich kenne der Menschen Herzen. Das soll unser Trost sein; laß die Welt unser Predigtamt verlachen.“[33]
(erschienen im Programmbuch des ZfP 2017)
[1] CA VII: „Es wird auch gelehret, daß alle Zeit musse ein heilige christliche Kirche sein und bleiben, welche ist die Versammlung aller Glaubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakrament laut des Evangelii gereicht werden.“ (vgl. BSLK, Göttingen 101986, 61.)
[2] Vgl. Martin Brecht, Martin Luther: Sein Weg zur Reformation (1483-1521), Calw1981, 150-154.
[3] Hans Martin Müller, Homiletik. Eine evangelische Predigtlehre, Berlin/New York 1996, 45.
[4] Vgl. zum Begriff „Kirche des Wortes“ Rainer Preul, Kirchentheorie. Wesen, Gestalt und Funktionen der Evangelischen Kirche, Berlin / New York 1997, 99-103.
[5] Albrecht Grözinger, Homiletik (Lehrbuch Praktische Theologie Band 2), Gütersloh 2008, 56.
[6] Vgl. oben Anmerkung 1.
[7] Vgl. dazu grundlegend Eilert Herms, Das Evangelium für das Volk. Praxis und Theorie der Predigt bei Luther, in: ders., Offenbarung und Glaube. Zur Bildung des christlichen Lebens, Tübingen 1992, 20-55.
[8] Herms, Evangelium, a.a.O., 21.
[9] A.a.O., 22.
[10] Vgl. Alexander Deeg, Pastor legens. Das Rabbinat als Impulsgeber für ein Leitbild evangelischen Pfarramts: PTh 93 (2004), 411-427.
[11] Vgl Grözinger, Homiletik, 57.
[12] Christoph Kähler, Treue gegenüber dem biblischen Text. Zum Reformationsjubiläum eine revidierte Lutherbibel, in: DtPfrBl 116 (2016), 24-33, 27.
[13] CA XXVIII: ohne Gewalt, allein durch das Wort
[14] Martin Luther, Acht Sermone, gepredigt zu Wittenberg, in der Fastenzeit 1522, in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 4: Der Kampf um die reine Lehre, Göttingen 41990, 61-94, 69.
[15] Martin Luther, Predigt zum Sonntag Sexagesimae (Lk 8, 4-15), in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 8: Die Predigten, Göttingen 31983, 117-123, 122.
[16] Martin Luther, Acht Sermone, gepredigt zu Wittenberg, in der Fastenzeit 1522, in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 4: Der Kampf um die reine Lehre, Göttingen 41990, 61-94.
[17] Martin Luther, Wie ein Lehrer predigen und auf welche er sehen soll, in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 9: Tischreden, Göttingen 41983, 148.
[18] Vgl. Martin Nicol, Einander ins Bild setzen. Dramaturgische Homiletik, Göttingen 2002. Eine gute Zusammenfassung des Ansatzes und seinen Wurzeln in der nordamerikanischen „homiletical revolution“ bietet Martin Nicol in folgendem Aufsatz: ders., PredigtKunst. Ästhetische Überlegungen zur homiletischen Praxis, in: PrTh 35 (2000), 19-24.
[19] Vgl. Nicol, Bild, 55.
[20] Vgl. Müller, Homiletik, 71.
[21] Vgl. den gleichnamigen Entwurf des US-amerikanischen Homiletikers Fred B. Craddock: ders, As one without authority, St. Louis, 42001.
[22] Wilfried Engemann, Einführung in die Homiletik, Tübingen/Basel 2002, 70.
[23] Vgl. etwa Wilfried Engemanns Vorstellung vom Auredit des Hörers als eigentlichem Abschluss des Predigtprozesses: ders., Einführung, 171f.
[24] Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 2: Der Reformator, Göttingen 21981, 155-170, 160.
[25] Dietrich Rössler, Beispiel und Erfahrung. Zu Luthers Homiletik, in: Christian Albrecht/Martin Weeber (Hg.), Überlieferung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur Praktischen Theologie (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart 1), Tübingen 2006, 20-32, 29.
[26] Manfred Josuttis, Der Prediger in der Predigt. Sündiger Mensch oder mündiger Zeuge, in: Praxis des Evangeliums zwischen Politik und Religion. Grundprobleme der Praktischen Theologie, München 41988, 70-94, 85.
[27] Vgl. Grözinger, Homiletik, 123f.
[28] Engemann, Einführung, 187.
[29] Herms, Evangelium, 24.
[30] Vgl. Müller, Homiletik, 67.
[31] Müller, Homiletik, 61.
[32] WA 48, S. 421
[33] Martin Luther, Gott befiehlt den Predigern das Predigtamt, in: Kurt Aland (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart. Band 9: Tischreden, Göttingen 41983, 142.
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