Respekt
Eine Haltung.
I.
„Wenn Theologie Gott nicht mehr nah und fremd zugleich sein lässt, wenn sie ihn nicht zugleich vertraut und verstörend sein lässt, dann nimmt sie ihrer Rede von Gott mitunter die Tiefenschärfe. Das führt dazu, dass Menschen in Krisen und Grenzsituationen ihres Lebens an Gott zweifeln und verzweifeln. Die Gotteskrise ist auch die Krise eines verharmlosenden Gottesbildes. Und eine Kirche, die es sich mit Gott zu leicht macht, überzeugt die Seele eines sehnsüchtigen Menschen nicht und arbeitet damit unabsichtlich einem weiteren Vergessen Gottes.“
So formulierte der Ratsvorsitzende der EKD, Nikolaus Schneider, in seinem Bericht bei der Tagung der EKD-Synode im November 2012 diese grundsätzliche Einsicht und rief auch deren theologische Wurzeln in Erinnerung: „Zu Beginn des letzten Jahrhunderts gab es eine theologische Bewegung – die „Dialektische Theologie“ –, die die Rede von dem liebenden und menschennahen Gott wieder unlöslich mit der Rede von dem unverfügbaren, fremden, abständigen Gott verband. ‚Gott ist immer auch der ganz Andere‘, das war gleichsam ihr cantus firmus. Und ich bin davon überzeugt, dass wir diese Einsicht für unsere heutigen Zeitfragen und Zeitansagen nicht aufgeben dürfen.“
Im Jahr 2013 wird diese Tradition durch zwei Jubiläen auf ihre gegenwärtige Bedeutung befragt. 450 Jahre alt wird der Heidelberger Katechismus, die grundlegende reformierte Bekenntnisschrift. Und seit 40 Jahren ist mit der Leuenberger Konkordie innerevangelische Ökumene möglich. Zwischen Bekenntnistext und Konkordie, zwischen Profilierung und Kompromiss, zwischen Abgrenzung und (Wieder)Annäherung bewegen wir uns in diesem Jahr, das unter das Thema „Reformation und Toleranz“ gestellt worden ist. Schon jetzt ist abzusehen, dass es sich dabei um eines der weniger gefälligen Themen der Reformationsdekade handelt, bei dem vorrangig dessen Komplexität in Erinnerung bleiben wird.
Zwischen der Erinnerung an die reformierte Tradition und den Unbilden des Toleranzthemas lässt sich aber auch ein grundsätzlicher Zugang zu homiletischen Fragen gewinnen. Historisch-homiletisch erscheinen Traditionslinien erkennbar, die das homiletische Erbe der Dialektischen Theologie (wieder) in die gegenwärtige Diskussion eingebracht haben. In Deutschland war, so kann man wohl etwas verkürzt sagen, die Rezeption der Dialektischen Theologie, insbesondere im Bereich der Praktischen Theologie, spätestens mit dem Tod Karl Barths 1968 weitgehend beendet (wenn man von Rudolf Bohrens singulärer Bedeutung für die Predigtlehre einmal absehen will). Die Empiriker unter den Theologen waren nicht in erster Linie an einem unverfügbaren, fremden und abständigen Gott, sondern vor allem am Predigthörer und der Predigthörerin als dem unbekannten Wesen unter der Kanzel interessiert. Auch das gesellschaftliche Klima der Zeit schien eher unempfänglich für zeitlose Wahrheiten und Autoritätsansprüche jeglicher Art, einmal mehr, wenn es sich um transzendente Autoritäten handelte.
Ganz anders die Situation in Nordamerika. Die Rezeption der Dialektischen Theologie geriet dort nicht in vergleichbarem Ausmaß wie in Deutschland in die Mühlen der gesellschaftlichen Umbruchsbewegungen. Überhaupt machte sich der grundsätzlich pragmatischere Zugang zu theologischen Fragestellungen auch auf dem homiletischen Feld bemerkbar. Prinzipielle homiletische Fragestellungen, was eine Predigt eigentlich sei oder zu sein habe, traten, anders als in Deutschland, zugunsten formaler Aspekte der Predigt in den Hintergrund. Wie muss eine Predigt rhetorisch und sprachlich gestaltet sein, damit ankommt, was weitergesagt werden soll? Die Gründung der Academy of Homiletics 1965 markiert den Ausgangspunkt für ein verstärktes Bemühen um die Gestalt der Predigt im nordamerikanischen Kontext.
Erst knapp 40 Jahre später, seit 2002, wurde dieser Impuls durch Martin Nicols Entwurf einer „Dramaturgischen Homiletik“ nach Deutschland gebracht. Entscheidend für die Erfolgsgeschichte dieses homiletischen Ansatzes scheint vor allem die Öffnung theoretischer Überlegungen über den universitären Kontext hinaus in die Praxis gewesen zu sein. Die homiletisch-didaktische Begeisterung von Martin Nicol und Alexander Deeg war zu groß für Seminarräume an der Universität. Mit dem Begriff „Atelier“ war ein „Zwischenort zwischen Schreibtisch und Kanzel“[1] bestimmt, der zudem kein virtueller Ort geblieben ist.
Bei allem Interesse an formalen Aspekten des Predigtgeschehens erschöpft sich dieser Ansatz aber keineswegs in didaktischen und pragmatischen Fragen (wie ihm oft und zu Unrecht vorgeworfen wird). Lässt sich sagen, dass auf dem Umweg über Nordamerika ein Re-Import eines zentralen Anliegens der Dialektischen Theologie nach Deutschland stattgefunden hat? Wenn das so ist, scheint er von den wenigen Nachlassverwaltern der dialektischen Tradition noch nicht oder nicht in ausreichendem Maße als der ihrem theologischen Anliegen entsprechende homiletische Ansatz identifiziert worden zu sein. Das ist vielleicht durch das traditionelle Desinteresse dieser theologischen Denkrichtung an formal-pragmatischen homiletischen Fragen bedingt, aber auch durch das erkennbare Anliegen Martin Nicols, theologisches Schubladendenken nicht weiter bedienen zu wollen.
Wenn in der Tradition der Dialektischen Theologie der cantus firmus gilt, dass Gott „der ganz Andere“ ist, lässt sich in Konzeption und Durchführung eines dramaturgisch-homiletischen Ansatzes dieses „ganz Andere“ ebenfalls entdecken. Immer wieder betonen Nicol und Deeg die Andersartigkeit, ja Fremdheit biblischer Texte, die sorgfältig erkundet sein wollen. Die gerade in theologischen Arbeitszusammenhängen immer wieder auflodernde „Wut des Verstehens“ (Jochen Hörisch) wird so gezügelt durch die Einsicht, dass auch der Bibeltext immer der „ganz Andere“ bleibt – und bleiben muss, um von ihm ausgehend etwas wirklich Neues und Weiterführendes sagen zu können.
II.
Wir sollen als Theologen von Gott reden.
Wir sind aber Menschen und können als solche
nicht von Gott reden.
Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen
und eben damit Gott die Ehre geben.
(Karl Barth)
Dem Anderen und Fremden müssen wir mit Geduld und Respekt begegnen. Das wird eine der – hoffentlich vielen – Einsichten im Themenjahr „Reformation und Toleranz“ sein. Das ist auch Maßgabe für alle homiletische Arbeit. Predigen kann man nur mit Respekt, um das berühmte Diktum Karl Barths vom Sollen und Nicht-Können positiv neu zu formulieren. Respekt ist eine prinzipiell-homiletische Haltung, die sich in formalen und pragmatischen Haltungen und Entscheidungen wiederspiegelt. Das Geburtstagskind „Heidelberger Katechismus“ schenkt dabei eine weitere Einsicht. Dort stehen, vor allen Antworten, zunächst die Fragen. Eine Homiletik des Respekts kann nur eine fragende Homiletik sein.
Welche Fragen sind das genau? Im Blick auf den Text Fragen wie: Kann ich wirklich hören, was der Text sagt – bevor ich etwas über ihn sage? Unterbreche ich das, was er sagen will, mit meinen Gedanken? Wie schnell glaube ich, etwas verstanden zu haben? Lasse ich den Bibeltext, wie jedes gegenüber, erst einmal ausreden? Aber auch die imaginierten Predigthörerinnen und –hörer sind von unserer „Wut des Verstehens“ schwer betroffen. Der Häufigkeit von Predigtklischees und -stereotypen, Reihungen und erfundenen Beispielgeschichten ist auch mit einer „gesteigerten Wahrnehmung der religiösen Situation der Gegenwart“[2] nicht recht beizukommen. „Niemand weiß alles von anderen Leben. Wir sind nur bei unserem eigenen Leben immer dabei, und selbst das heißt nicht, dass wir alles von unserem Leben wissen, weil Dinge, die uns betreffen, passieren können, ohne dass wir dabei sind. Oft passieren schwerwiegende Dinge, die uns betreffen, ohne unser Wissen. Vielleicht sollten wir uns auf den Satz verständigen, dass niemand alles von irgendeinem Leben weiß, nicht einmal vom eigenen. Wir sollten deshalb vorsichtig sein mit Sätzen, die ganze Leben betreffen.“ (Dirk Kurbjuweit, Angst, Berlin 2013, 11) „Kennen wir nicht alle“….solche Sätze, vor allen Dingen aus Predigten? Sind wir vorsichtig genug mit Sätzen, die ganze Leben betreffen? Und glaube ich, mehr über meinen Hörer und meine Hörerin zu wissen, als er oder sie selbst? Wie viel traue ich ihnen an eigenem Verstehen zu, wo verraten die Einleitungen, Überleitungen, Kommentare und Wertungen in meiner Predigt, dass ich mich über die erhebe, die mir zuhören?
Außer in den klassischen homiletischen Relationen zu Text und Situation ist eine Haltung des Respekts auch für den theologischen Grundton der Predigt maßgeblich. Die Subsumierung des nach biblischer Zählung zweiten Gebots unter das erste ist durchaus und nicht nur für reformierte Christen reversibel. Um gleich mit dem ersten Artikel zu beginnen: Welches Gottesbild zeichnet sich in meiner Predigt ab? Und habe ich darin bestimmt, was Gott will, kann oder möchte?
Auch für die Frage nach einer Predigt in Israels Gegenwart ist eine Haltung des Respekts die einzig angemessene. Respektiere ich die Einzigartigkeit der Beziehung zwischen Gott und Israel? Spielen Vorstellungen von alt und neu dabei eine Rolle? Kann meine Predigt in Israels Gegenwart, konkreter: in der Gegenwart jüdischer Menschen, gehalten werden?
In formal-homiletischer Hinsicht werden Fragen zum Instrument homiletischer Feinjustierung, wie es etwa Peter Bukowski vorschlägt.[3] Darüber hinaus ließe sich in diesem Bereich auch noch weiter fragen: Gibt es einen Abstand zwischen meiner Predigt und mir selbst? Bin ich in der Lage, sie von außen zu betrachten oder betrachten zu lassen (und dabei sogar unter der Maxime „kill your darlings“ Sätze oder Abschnitte wieder zu streichen)? Ist meine Sprache angemessen, vorsichtig, genau? Welche Bilder benutze ich? Stimmen sie? Ist der Gedankengang nachvollziehbar und klar? Wie lange wird meine Predigt dauern?
Ein Prediger, eine Predigerin, die alle diese Fragen stellt, kommt zwischen Sollen und Nicht-Können zu Antworten. Sie werden von Geduld und Respekt geprägt sein. Geduld und Respekt mit sich selbst, mit dem biblischen Text, den Hörerinnen und Hörern, der Situation, den eigenen sprachlichen und performativen Möglichkeiten, auch von „Geduld mit Gott“ (Thomas Halik). Ein Abstand, der Nähe ermöglicht.
(erschienen im Programmbuch des ZfP 2013)
[1] Martin Nicol/Alexander Deeg, Einander ins Bild setzen, in: Lars Charbonnier/Konrad Merzyn/Peter Meyer (Hg.), Homiletik. Aktuelle Konzepte und ihre Umsetzung, Göttingen 2012, 68-84, 68.
[2] A.a.O., 17.
[3] Vgl. Peter Bukowski, Predigt wahrnehmen, Neukirchen-Vluyn, 52007, 23.
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