Jesus aus den Trümmern

Eine Predigt zu 2. Kor 4,5 am 6. September 2020 zum 125. Jubiläum der alten Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche

Wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er der Herr ist, wir aber eure Knechte um Jesu willen. Denn Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten der hat einen hellen Schein in unsere Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit in dem Angesicht Jesu Christi. (2. Kor 4, 5f.)

Ob er noch weiß geleuchtet hat nach der Bombennacht im November? An dem glatten Marmor, aus dem er gemacht ist, haften Ruß und Staub nur schlecht. Vielleicht hatte es schon geregnet durch das nicht mehr vorhandene Dach. Wie ist er ihnen entgegen gekommen, der Heiland, als sie sich in das Innere der Kirche wagten, als die glühenden Steine abgekühlt waren und sie sich vorsichtig einen Weg bahnten durch das Durcheinander von verkohlten Balken, Ziegelbrocken, den Resten der Kirchenbänke und den tausenden von kleinen Mosaiksteinchen?
Haben sie ihn gleich sehen können, in der Mitte von allem, oder was vorher die Mitte war, auf seinem schönen erhöhten Platz. Hat ihm sein Baldachin Schutz geboten? Stand er noch oder lag er schon? War sein rechter Arm schon abgebrochen oder passierte das erst später, als sie ihn bargen, schnell und still, wie man einen Toten birgt, und ihn herausbrachten aus den Trümmern der Kirche?

Und wo war er eigentlich danach die ganze Zeit? Wo hat er gewartet, ohne seinen rechten Arm, das Gesicht schmutzig und grau und irgendwie erschöpft, den Gesichtern der Menschen nicht unähnlich, die draußen in der Stadt unterwegs waren. Oder in dem, was von ihr übrig war und in der sie sich selbst nur wie übriggeblieben fühlen konnten. In welche Ecke haben sie ihn gestellt? Und wie oft haben sie ihn wohl hin und her geräumt oder eingelagert, weil man ja schließlich auch einen kaputten Jesus nicht so einfach entsorgen kann, zerschlagen und auf einen der Trümmerberge vor der Stadt kippen? Eine Verlegenheit war später auch sein Platz in der Gedenkhalle. Ein guter Ort höchstens für die Obdachlosen. Er stand darin hinter Gittern und die ganze ehemalige Eingangshalle der Kirche war noch weit davon entfernt, ein Ort angemessenen Gedenkens zu sein. Hat er aufgeatmet im Jahr 1987, als es endlich Fenster gab und Heizung und Beleuchtung und Besuch, weniger, weil sie es speziell mit ihm so gut meinten, sondern weil die Stadt Berlin sich feiern wollte und endlich mal den Krieg aufräumen bis in die letzten Winkel? Schon wieder über dreißig Jahre steht er jetzt dort, in seinem Rücken Menschen, Autos, Busse, blinkende Reklame und je nach Jahreszeit Weihnachtsbuden oder Partyzelte, neuerdings auch hübsche und angeblich temporäre Sicherheitsmaßnahmen.

Ich kann mich jetzt vor ihn stellen in der Gedenkhalle. Er ist gar nicht so viel größer als ich. Und ich kann ihm in die Augen sehen. Die Hand auf seiner Brust sagt: Sieh, hier bin ich. Ich bin es, Jesus. Du wirst mich schon erkannt haben. Ich sehe aus, wie sie mich immerzu aussehen lassen wollten, langhaarig und mit Bart in diesem, glaub es mir, furchtbar unpraktischen wallenden Gewand, das ich die ganze Zeit festhalten müsste, wenn ich nicht darüber stolpern will. Ich bin es. Dein Jesus aus den Trümmern, kriegsversehrt, schmutzig, erschöpft. Und immer noch ratlos, wie das alles gekommen ist und ich hierher.

Wir predigen nicht uns selbst. Aber wir predigen für uns selbst. Ich predige für euch und für mich. Ich brauche dringend den hellen Schein von Gott in meinem Herzen, damit ich sehen kann: Dieser Jesus, der jetzt in der Gedenkhalle steht, so kriegsversehrt und mit seinem ratlosen Gesichtsausdruck: Das ist der richtige. Nicht die Christusstatue aus wertvollem Marmor, die er einmal war, gestiftet von der wohltätigen Frau Baurath Wentzel. Den Bildhauer Fritz Schaper engagierte damals nur , wer es sich leisten konnte. Frau Baurath Wentzel, Elise Wentzel-Heckmann, konnte es. Sie kannte den Künstler bereits. Sie hatte schließlich schon die Büste ihres verstorbenen Mannes bei ihm arbeiten lassen. Und auch der Christus für die Gedächtniskirche wurde im damals schon aus der Mode gekommenen Geschmack der Nazarener gefertigt, langhaarig, bärtig, im wallenden Gewand.

Mit dem Original aus Nazareth hatten und haben diese Darstellungen nichts zu tun. Was Jesus wohl dazu gesagt hätte, hätte man das zu seinen Lebzeiten mit ihm veranstalten wollen: Ihn auf einen Altar stellen, umgeben von Marmorsäulen und beschirmt von einem Baldachin, eingepasst ins Gesamtensemble, der Kontrast zu seiner Umgebung, weiß vor dunklen Hintergrund, nur noch als künstlerische Wirkung vorgesehen. Auf manchen der undeutlichen Aufnahmen aus der alten Kirche kann man tatsächlich den Eindruck gewinnen, Jesus käme einem gar nicht entgegen, sondern sei im Gegenteil gerade dabei, sich abzuwenden und zu gehen. Als würde er gleich mit einer ungeduldigen Bewegung sein wallendes Gewand raffen und einfach herabsteigen von diesem prunkvollen Altarpodest. Bloß raus hier. Irgendwo dahinten hinter dem Altar wird schon eine Tür sein und ein Weg nach draußen

Der helle Schein in unseren Herzen, die Erkenntnis, wer Jesus ist und wie er in Wirklichkeit aussieht – dieser helle Schein war das trübe Licht eines Novembermorgens im Jahr 1943. Es schien durch Rauch und Staub und letzte Flammen auf eine zerstörte Stadt. Was damals hier kaputt ging, das war nicht nur ein Gebäude, sondern auch ein Weltbild. Damals ist die Vorstellung zerbrochen, Jesus oder Gott oder gleich beide hielten sich irgendwie immer in der Nähe der Mächtigen der Welt auf. Sie ist abgebrochen wie Jesu rechter Arm, mit einem hässlichen Knirschen und ohne die Möglichkeit, sie wieder anzukleben, ohne dass man es sieht.
Die kläglichen Versuche, es doch zu tun, lassen sich gelegentlich in den Nachrichten besichtigen, wenn Präsidenten plötzlich Bibeln in die Kamera halten. Wer die Bibel aufschlägt, kann es nachlesen: Die Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi hat mit unseren Vorstellungen von Herrlichkeit und Macht wenig bis gar nichts zu tun.

Überall, wo Jesus nach dieser Nacht im November 1943 gewesen ist, war er richtiger als auf dem Altar, der 1895 für ihn gebaut wurde. Denn die Herrlichkeit Gottes ist in den Gesichtern der Beschädigten und Versehrten zu sehen. Sie ist in den Augen derer, für die man keinen rechten Platz finden kann, die irgendwo notdürftig untergebracht werden müssen über Jahre. Und bei den Obdachlosen. Die Herrlichkeit Gottes ist bei den Erschöpften und Müden. Sie liegt nicht auf den glatten Gesichtern, sondern auf zerknitterten. Sie ist bei denen, die nie so richtig ins Gesamtensemble passen wollen.

Wir predigen nicht uns selbst, wahrhaftig nicht. Die Versuchung dazu ist groß, gerade an einem festlichen Tag wie heute, wo es gerne ein bisschen glatter, weißer Marmor sein dürfte. Es geht nicht. Denn wir predigen nicht uns selbst, sondern Jesus Christus, dass er der Herr ist und seine Herrlichkeit eine andere. Er ist bei uns, Jesus, kriegsversehrt, erschöpft, ratlos. Er erinnert uns daran, was passieren kann, wenn man zu viel Gottesdienst mit dem Kaiser und Frau Baurath Wentzel feiert. Und dass er der Herr ist und wir die sind, die ihm dienen. Und nicht umgekehrt. Mein Jesus aus den Trümmern. Diese Welt würde heil, wenn wir dir folgten.

Amen

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