„Macht ein Kriegsgeschrei!“ Die Aufforderung aus der Geschichte von der Eroberung der Stadt Jericho findet ihr Echo in der Welt. Gerade in diesen Tagen erleben wir es, schon wieder. Es gab gestern einen Militärschlag Israels gegen Militäreinrichtungen und Atomanlagen im Iran. Wie das alles ausgeht, ist noch ungewiss. „Operation Rising Lion“ nennt sich die Aktion. Der Name bezieht sich auf eine Stelle in der Bibel, in der es heißt: „Das Volk wird aufstehen wie ein junger Löwe und wird sich erheben wie ein Löwe, es wird sich nicht legen, bis es den Raub verzehrt und das Blut der Erschlagenen trinkt“ (Numeri 23,24)
Das passt zu dem Ende der Geschichte, die wir gerade gehört haben. Denn die Eroberung der Stadt Jericho endet in einem großen Gemetzel an Mann und Weib und Jung und Alt und sogar an den Tieren, an den Rindern und Eseln. Die nun wirklich gar nichts dafürkönnen, dass Menschen Krieg miteinander angefangen haben.
Für Jugendliche geeignet ist das alles nicht gerade, auch nicht für Jungbläserinnen und -bläser. Hätten wir das bei der Wahl des Predigttextes bedenken sollen? Und uns diesmal nicht hinreißen lassen sollen von der Beliebheit dieser Geschichte für alle Veranstaltungen, bei denen Posaunenchöre eine Rolle spielen? Fasziniert von der Erwähnung der Posaunen in dieser Geschichte und von der Kraft ihrer Töne, die Mauern zum Einsturz bringen können? Die Trompeten und Hörner und Tuben brauchen jetzt nicht beleidigt sein: Die Posaunen in der Geschichte waren ja nicht einmal golden glänzenden Blechblasinstrumente, sondern Schofare, Widderhörner, mit einem eher eigentümlichen als eindrucksvollem Klang.
„Macht ein Kriegsgeschrei!“ Es ist, wie es manchmal ist oder sogar meistens. In alle schönen Vorbereitungen und Gedanken, die man sich lange vorher macht, grätscht die Wirklichkeit hinein, in Gestalt der ganz aktuellen beunruhigenden Nachrichten aus dem Nahen Osten. „Operation Rising Lion“: Das hört sich wie der Titel eines Kriegsfilms an. Leider hat diese Welt und das, was politisch in ihr geschieht, keine FSK-Kontrolle, wie sie allzu blutrünstige Filme über Krieg und Gewalt aus guten Gründen haben. Diese Welt ist oft wirklich erst frei ab 16 oder 18. Aber es ist trotzdem die Welt, in wir jetzt leben, ihr Jugendlichen noch viel länger als wir. Und gemeinsam sorgen wir uns darum, wie das alles ausgeht und was man später einmal über diese Zeit in den Geschichtsbüchern lesen wird. Denn aus all den Geschichten, die jetzt gerade passieren, wird irgendwann Geschichte.
Nur in dem Fall der Geschichte der Eroberung der Stadt Jericho ist das anders. Sie ist wirklich nur eine Geschichte. Sie hat keinen Anhalt an der historischen Wirklichkeit. Als das Volk Israel nach den vierzig Jahren seiner mühseligen Wanderung durch die Wüste endlich in dem Land ankam, das Gott ihnen versprochen hatte, gab es gar keine Stadt Jericho. Und es gab erst recht keine Stadtmauern, sondern bloß die Reste von dem, was einmal eine Stadt gewesen war. Besiedelt war Jericho schon sehr lange. Die Stadt ist eine der ältesten der Welt. Aber immer wieder gab es auch Zeiten, in denen sie zerstört war und verlassen wurde. Und als das Volk Israel in Jericho ankam, war gerade so eine Zeit. Da gab es gar nichts zu umrunden oder zu erobern.
Die Kraft dieser Geschichte liegt nicht in ihrer historischen Wahrheit. Sie liegt woanders. Sie wurde aufgeschrieben zu einer Zeit, als Israel gar kein eigenes Land mehr, sondern selbst von fremden Mächten erobert worden war. In einer Zeit, in der sie auf den Trümmern ihrer Geschichte saßen, da mussten sie sich jeden Tag angucken, was alles kaputt gegangen war. Und wie um sich selbst zu trösten, schreiben sie die Geschichte einer großen Eroberung auf.
Und wer genau hinhört und vorhin gut hingehört hat, weiß jetzt, dass Schofare keine besonders beeindruckenden Instrumente sind. Wenn man mit kümmerlichen sieben Schofaren um eine befestigte Stadt herumbläst, dann wird kein Steinchen wackeln. Wahrscheinlich bekommen es die Bewohnerinnen und Bewohner nicht einmal mit. Geschweige denn, dass sie sich fürchten würden.
Außerdem sollen die Priester und das Volk Israel beim Zug um die Stadt immer die Bundeslade mitschleppen. Eine sperrige und mühsame Angelegenheit, denn auf die Bundeslade müssen sie gut aufpassen. Die haben sie schon vierzig Jahre lang durch die Wüste getragen. Da sind die Tafeln mit den Zehn Geboten drin. Und stand da nicht auch so etwas drauf wie „Du sollst nicht töten“ und „Du sollst nicht begehren, was deinem Nächsten gehört“, also vielleicht auch nicht seine Stadt oder sein Land? Sechs Tage lang ziehen sie mit ihren sieben Schofaren und der Bundeslade und noch ohne Kriegsgeschrei um die Stadt und haben genug Zeit, darüber nachzudenken, was da eigentlich am siebten Tag passieren soll. Ein Angriff aus dem Nichts, eine blitzartige Eroberung ist es nicht. Und wenigstens darin unterscheidet sich die Eroberung Jerichos von den Blitzkriegen und Spezialoperationen, die wir aus der Geschichte kennen. Aber dann kommt sie doch noch, die Eroberung und das große Kriegsgeschrei und die Stadtmauer von Jericho fällt.
Ich kann diese Geschichte nur verstehen, wenn ich weiß, wer sie aufgeschrieben hat. Das Volk Israel war nicht der Sieger der Geschichte. Es war der Verlierer. Sie hatten das eroberte, das gelobte und versprochene Land längst schon wieder verloren. Und zu dieser Zeit schreiben sie diese Geschichte auf, in der sie die Sieger sind und am Ende alle niedergemetzelt werden. Und schreiben auch noch, dass Gott es genau so wollte. Ich glaube diese Geschichte nicht und ich glaube dieser Geschichte nicht. Sondern ich glaube an den Gott Israels, der seinem Volk die Zehn Gebote gegeben hat, damit dieses Volk diese Gebote in die Welt trägt. Und wir als Menschen aus allen Völkern in Frieden miteinander leben und nicht in Trümmern. Und die jungen Menschen keine Angst vor der Zukunft haben müssen.
Ich glaube nicht an Mauern und Grenzen und Eroberungen und Blitzkriege und Spezialoperationen. Denn wer wissen will, wie so etwas am Ende der Geschichte ausgeht, wie es zu Geschichte wird, der braucht sich gleich beim Rausgehen bloß die Trümmer hier vor der Tür anschauen. Wir können uns die Zeit nicht aussuchen, in der wir leben. Aber die Fehler der Vergangenheit müssen wir nicht ständig wiederholen. Viel kräftiger als die Schofare von Jericho wollen wir euch hören, euch Trompeten, Posaunen, Hörnern, Tuben, heute und hier, den Glanz eures Klangs über dieser Welt. Spielt uns das Lied vom Frieden.