Eine Predigt zu Joh 5,1-9 am 18. Oktober 2020
In der vergangenen Woche war ich im Urlaub und konnte sogar wegfahren aus Berlin. Eine Zeit zum Herumliegen und Entspannen war es aber nicht. Es war ein Familienbesuch. Ich bin dorthin gefahren, von wo ich vor ziemlich genau 28 Jahren aufgebrochen bin in mein eigenes Leben. In diesem Sommer ist mein Vater gestorben. Und nun war es Zeit, um aufzuräumen und Dinge abzuwickeln.
Ich bin in einer Urlaubsregion aufgewachsen. Meine Familie lebt von dem, was gerade überall verboten ist, von der Beherbergung anderer Menschen. Und so kam es irgendwie dazu, dass ich am vergangenen Donnerstag mit Bettdecken unter dem Arm die Dorfstraße entlang ging, zusammen mit meiner Schwester. Noch nie bin ich mit Bettdecken unter dem Arm zusammen mit meiner Schwester die Dorfstraße entlang gegangen, aber da ich in diesem Sommer so viel getan habe und tun musste, was ich noch nie getan habe und tun musste, war es uns beiden auch egal. Die Bettdecken waren frisch gewaschen und so weiß wie die Wolken an einem Himmel, so klar, wie er es nur an einem Oktobertag am Meer sein kann.
Ein Mann kommt uns auf der Dorfstraße entgegen. Wir kennen ihn. Es ist unser Nachbar. Einer von den Menschen, die man sein Leben lang kennt, ohne einmal wirklich ein Wort mit ihm zu wechseln. Er geht sehr langsam und benutzt einen Stock. Wir denken, was wir über alle Menschen in unserem alten Dorf denken – außer natürlich über uns selbst – dass er alt geworden ist. Die übliche Geschichte, ein Sturz im Alter, man ist ja nicht mehr so beweglich und danach dauert es lange, bis man wieder auf den Beinen ist. Ich hatte ihn schon vorher auf der Dorfstraße gesehen. Er ist fleißig, hat das Gehen neu lernen müssen und übt es nun, von seinem Haus bis zu dem Teich mit der Schafweide ein paar hundert Meter weiter. Da macht er eine Pause auf der Bank und dann geht er wieder zurück.
Wir gehen mit unseren Bettdecken unterm Arm, meine Schwester und ich. Sie leuchten weiß wie die Wolken am Oktoberhimmel. Dann sind wir auf der Höhe unseres Nachbarn. Er kennt uns ja auch schon, seit wir zwei kleine blonde Mädchen waren. Er weiß, was uns in diesem Sommer geschehen ist. Und dann sagt er zu uns: „Nimm dein Bett und geh nach Hause“. Und wir stehen da mit unseren Bettdecken und uns steht der Mund offen. Und der Himmel über uns auch.
Es ist aber in Jerusalem beim Schaftor ein Teich, der heißt auf Hebräisch Betesda. Dort sind fünf Hallen; in denen lagen viele Kranke, Blinde, Lahme, Ausgezehrte. Sie warteten darauf, dass sich das Wasser bewegte. Denn der Engel des Herrn fuhr von Zeit zu Zeit herab in den Teich und bewegte das Wasser. Wer nun zuerst hineinstieg, nachdem sich das Wasser bewegt hatte, der wurde gesund, an welcher Krankheit er auch litt.
Es war aber dort ein Mensch, der war seit achtunddreißig Jahren krank. Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin.
Es war nicht in Jerusalem am Teich Betesda. Es war in einem Dorf an der Ostsee am vergangenen Donnerstag auf der Dorfstraße. Aber sonst war es genauso. Ein Kranker, dem das Gehen schwerfällt, ein Teich mit einer Bank davor, auf die er sich setzen kann, wenn er nicht mehr kann und wo er täglich darauf wartet, dass es schon ein bisschen besser geht. Meine Schwester und ich mit unseren Bettdecken. Wir sind gut zu Fuß, aber wir haben traurige Herzen. Und wir warten auch darauf, dass es besser wird und wir nicht mehr so traurig sein müssen. Auf der Weide neben dem Teich waren sogar Schafe, mit wolkig weißem Fell, glaubt es oder glaubt es nicht.
Nimm dein Bett und geh nach Hause, hat unser Nachbar zu uns gesagt. Aus seinem Mund auf einmal ein Wort aus der Bibel. Woher er es kannte, das wusste er selbst nicht genau. Aber der Himmel war offen für einen Moment.
Und als wir ihn gefragt haben, wie es ihm geht, hat er nicht so geantwortet, wie man sonst immer auf solche Fragen antwortet. Besonders in Norddeutschland, wo die normale Antwort „muss ja“ lautet oder „nützt ja nix“.
Eine ehrliche Antwort haben wir von ihm bekommen: Dass es lange dauert, hat er gesagt, dass er das Laufen richtig üben muss und auch nur bis zu diesem Teich mit der Bank kommt. Da ruht er sich erstmal aus und macht noch ein paar Übungen und dann geht er wieder zurück nach Hause. Und wir konnten ihn so gut verstehen.
Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! sagt Jesus zu dem Kranken am Teich. Und ich kann es mir nicht anders vorstellen, als dass dieser Kranke es genauso machen musste wie unser Nachbar. Dass es gedauert hat, dass er es üben musste, nach 38 Jahren liegen, ohne Muskeln. Dass schwer war, danach wieder ins Leben hinein zu kommen. Und dass es mit einem Wunder allein nicht getan ist.
Es war in Jerusalem am Teich Betesda. Da war ein Mensch auf einer Liege am Teich. Für einen Wellnessurlaub ab und zu ist das ja nicht verkehrt. Aber es ist nichts, was man 38 Jahre lang Tag für Tag tun möchte. Das Erscheinen dieses Engels, der das Wasser bewegt, der mit dem bewegten Wasser Heilung verspricht – was schätzt ihr, wie viele Jahre lang hat das den Mann am Teich noch bewegt? In seinen völlig untrainierten Bauchmuskeln zog es von Anfang an. Aber da war wenigstens noch eine Art von Schmerz. Wann hat es angefangen, dass er sich gar nicht mehr aufrappelte?
Also, wie lange hat er es noch versucht? Von Zeit zu Zeit bloß kommt dieser Engel, nichts, womit man rechnen kann. Ein Jahr lang, vielleicht zwei? Oder regelmäßig einmal im Jahr, doch nochmal? Und den Rest der Zeit, was hat er da gemacht? Sie sind einfach vergangen, die Tage und die Jahre, aus denen ein Leben ist.
Gründe, warum es gerade nicht geht, gibt es immer genug. Immer kann etwas oder jemand vor mir da sein, bei der Arbeit, in der Beziehung, im Leben. Immer auf die anderen gucken, die vor dir reinkommen, die vor dir drankommen, die es hinkriegen, das kann man sehr bequem von einer Liege aus.
Der Mensch lag an einem Teich am Schaftor im Jerusalem, bei den fünf Hallen und hat sich komplett eingefügt in dieses Ensemble. Und war ungefähr noch so beweglich wie eine der steinernen Säulen der Halle. Und manchmal sehe ich in den Spiegel, morgens, in der Lietzenburger Straße in Berlin, mich, den Menschen. Obwohl ich gerade aufgestanden bin, sehe ich dem Menschen am Teich schon ähnlich. Schmerzfrei eingefügt in das Gesamtensemble meines Lebens.
So, und dann kommt Jesus und sagt: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Ich glaube: Es muss einer kommen, der dich das fragt. Der einbricht in dein Leben und dich da rausholt. Eine Begegnung. Die Begegnung.
Gerade liegen wir doch alle wie die Gelähmten am Teich Betesda und warten, dass sich das Wasser bewegt, dass es aufhört mit dem Virus, dass die Heilung kommt oder wenigstens der Impfstoff. Und so liegen wir, statt zu leben. Dabei war doch Jesus schon da, damals am Teich Betesda.
Und wenn Jesus kommt, dann ist Schluss mit dem Liegen an den Teichen und den Begründungen, warum man liegt und wieso hier und wieso schon so lange und die anderen immer…Schluss mit allen Ausreden. Willst du leben oder liegen? fragt Jesus alle Kranken an allen Teichen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin.
Wie wünschte ich mir, einer sagte das zu mir, dass ich aufstehen soll und mein Bett nehmen. Am besten jeden Tag gleich nach dem Aufstehen. Ja, dann ziept es in all den untrainierten Muskeln. Es zwickt da, wo ich selbst krank bin, blind, lahm oder ausgezehrt. Aber es geht. Es geht auch dann, wenn man sich ein Bein gebrochen hat wie unser Nachbar. Es geht, wenn das Herz traurig ist, wie bei meiner Schwester und mir. Und es geht auch dann, wenn wir alle zusammen wie gelähmt sind vor Angst. Krankheit und Trauer und Angst stehen mitten auf der Dorfstraße. Keiner kann daran vorbeikommen. Wirklich helfen tut nur, dass wir ehrlich miteinander sind, statt des ewigen „muss ja“ oder „nützt ja nix“. Wenn wir freundlich und vorsichtig miteinander umgehen. Und uns gegenseitig Mut machen. Denn Liegen ist keine Alternative zum Leben. Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Jesus hat es gesagt. Ich habe verstanden, was das heißt, da auf der Dorfstraße, mit der Bettdecke unter dem Arm, mit meiner Schwester neben mir und unserem Nachbarn mit dem Stock, am Teich bei den Schafen. Und unter diesem Himmel mit den weißen, weißen Wolken.
Amen