Mit Küssen

Eine Predigt zu 2. Kor 13,11-13 am 15. Juni 2014 in Wittenberg

Es ist noch hell an diesem Abend im frühen Sommer. Das Licht reicht lange. Gegen Abend geht es einmal durch die Stadt. Von Haus und Hof des Lucas Cranach zum Schwarzen Kloster, die Braut, das Gesinde mit der Aussteuer, ein kleiner Zug, von neugierigen Blicken verfolgt. Das ist doch eine der Nonnen aus Nimbschen, die bei Cranachs Unterschlupf gefunden hat? Nur wenige Menschen schließen sich der kleinen Gruppe noch an. An der Stadtkirche kommt Johannes Bugenhagen dazu, der sie trauen wird, an der Universität Justus Jonas und ein paar von Luthers Freunden. An Philipp Melanchthons‘ Haus gehen sie vorbei. Sie brauchen nicht warten, er wird heute nicht kommen. Seinen Segen haben die beiden nicht.
Der Kurfürst dagegen zeigt sich wieder einmal so, wie man ihn kennt und schickt die Ringe. Die sind eine Spur zu prächtig für den ehemaligen Mönch und die ehemalige Nonne. Arm sind die beiden zwar noch, gehorsam schon nicht mehr und keusch auch nicht mehr lange. Nach der Trauung wird die Ehe vollzogen. Unter Zeugen schlafen die beiden miteinander. So ist es üblich. Kein schöner Anblick sei das gewesen, wird Justus Jonas später erzählen, mehr Peinlichkeit als Leidenschaft. Ob sie sich geküsst haben, die beiden? Er weiß es nicht, er hat lieber nicht so genau hingesehen da im Dämmerlicht der Schlafkammer.

Es war ein langer Weg durch die Zeiten, viel länger als der Weg durch die Stadt, bis wir so groß und fröhlich Hochzeiten feiern. Luthers Hochzeit an diesem Wochenende in Wittenberg, aber auch die Hochzeiten unter uns. Katharina und Martin haben „in aller Stille“ geheiratet und dennoch hat ihre Hochzeit solchen Anstoß erregt wie selten eine. Auch engste Freunde wie Philipp Melanchthon waren sich nicht sicher, ob es nicht doch besser sei, ehelos zu leben, ob dies wirklich der richtige Weg sei. Dieser Weg hat begonnen mit Katharina und Martin. Ihre Liebe soll noch sehr gewachsen sein über die Jahre. Die Peinlichkeit des Anfangs verwandelt in Leidenschaft, kein loderndes Feuer, aber eine stille und beständige Glut. So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Auch, wenn zwei beieinander liegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden?
Als Martin später diese Zeilen aus der Bibel übersetzt, da weiß er schon lange, wovon da geredet wird. Seit Katharina neben ihm liegt im Schwarzen Kloster.
Es war der richtige Weg. Heute wissen wir das. Die Ehe von Katharina und Martin hat nicht nur das Gebot der Ehelosigkeit für Priester beendet, sie hat insgesamt die Ehe aufgewertet. Von Peinlichkeit keine Spur mehr, nicht einmal von der wirtschaftlichen und sonstigen Notwendigkeit, die Jahrhunderte lang bestimmend dafür war, dass und wer heiratet. Heute muss niemand mehr heiraten. Kein Paar braucht einen Grund dafür. Aber viele tun es trotzdem.
Und längst gehört in den Gottesdienst zur Trauung auch ein Kuss. Dieser Kuss sagt: Wir sind zwei Menschen und was wir zusammen haben, das ist mehr als gemeinsame Interessen oder eine Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Wir sind als Menschen gemacht. Gott hat uns Fleisch und Blut werden lassen und das spüren wir, wenn wir zusammen sind. Wir sind Körper und wollen berührt werden. Leidenschaft, nicht Peinlichkeit. Und der Kuss ist der Vorgeschmack darauf.

Im Übrigen, lieber Bruder, liebe Schwester, freut euch, lasst euch zurechtbringen, lasst euch zureden, seid eines Sinnes, haltet Frieden – und der Gott der Liebe und des Friedens wird mit euch sein.
Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Heiligen.
Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch.

Ein anderer guter Freund Luthers schreibt heute. Paulus hätte seine Grüße auch direkt nach Wittenberg an Katharina und Martin schicken können. Es sind Grüße mit guten Wünschen. Sie verschweigen auch nicht, dass die „Küssenwochen“, wie Martin sie nannte, irgendwann zu Ende gehen werden und der Alltag beginnt. Von Beziehungen zwischen zwei Menschen und auch von der Ehe hat Paulus ja nicht besonders viel gehalten. Er wäre wohl einer von den Freunden, die nicht mitgegangen sind zur Trauung von Katharina und Martin. Aber worum es geht in Beziehungen, das weiß er genau. Das zeigen die Briefe an seine Gemeinden. Darin ist er selbst zu sehen, mit der ganzen Bandbreite seiner Gefühle, zwischen Peinlichkeit und Leidenschaft: Gar nicht ankommen beim anderen, nicht so ankommen, wie man es sich wünscht, angenommen sein und verstanden werden, missverstanden werden, sich abwenden, einen neuen Anfang versuchen, um den anderen kämpfen, resignieren, sich aneinander freuen, den anderen langsam gut kennen, Neues entdecken, ziemlich genau wissen, was einen stört, trotzdem zueinander halten, nicht aufgeben, schon glauben, aufgeben zu müssen, dranbleiben, investieren und etwas zurückbekommen, investieren und nichts zurückbekommen, etwas geschenkt bekommen, nichts geschenkt kriegen, enttäuscht werden, überrascht werden. So ist das in Beziehungen. So ist es Paulus gegangen, besonders mit der Gemeinde in Korinth, an die er schreibt.
Und so ist es auch mit den Küssen. Flüchtig, gierig, nur auf die Wange, brennend, vorsichtig. Küßchen links, Küßchen rechts, Bruderkuss. Noch einmal voller Bedauern, mit schlechtem Gewissen, wie dafür bezahlt, nur für besonders liebe Freunde, bei jeder Gelegenheit. Eilig am Morgen, tief in der Nacht. Der erste Kuss. Der letzte Kuss. Der Kuss, den du nie bekommen hast.

Trotz aller Schwierigkeiten, die die Gemeinde mit sich selbst und mit Paulus hatte, stehen am Ende des Briefes seine guten Wünsche. Die „Küssenwochen“ sind vorbei in Korinth, mit dem Frieden ist es so eine Sache, aber Liebe haben sie noch füreinander. Es gibt Küsse, vielleicht nur flüchtig und auch mit schlechtem Gewissen, aber immerhin: richtige Küsse. Unter Christen, zur Begrüßung und zum Abschied.

Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Peinlichkeit, nicht Leidenschaft bei der Vorstellung, wie es wäre, wenn das heute noch üblich wäre. Auf dem Weg durch die Zeiten hat sich der Kuss verwandelt, von einem richtigen Kuss zum Friedensgruß beim Abendmahl. Da reicht man dann einander die Hand und sagt „Friede sei mit dir“. Die man kennt, die lächelt man einfach ein bisschen mehr an als die, die heute nur zu Besuch sind im Gottesdienst. Aber bitte alles in Grenzen, es bleibt in der Regel natürlich beim Händeschütteln. Weil wir doch noch denken, dass es zwei Sorten Liebe gibt. Eine mit Leidenschaft, eine eher ohne. Eine mit Küssen, eine eher ohne. Eros und Agape auf Griechisch, amor und caritas auf Latein, auf Deutsch Liebe, mit Küssen und ohne. Jeder weiß dann schon, was wann dran ist.

Unter anderem, weil Paulus es nicht so hatte mit den Beziehungen zwischen zwei Menschen, wurde unter Christen lange Zeit nicht nur unterschieden zwischen der Liebe mit und ohne Küssen. Es wurde lange Zeit auch gesagt, dass die Liebe ohne Küssen die bessere sei, eine Tugend. Die andere Liebe dagegen – so unberechenbar, immer gefährlich, eine Sünde.
Das saß Katharina und Martin als Angst im Nacken, als sie geheiratet haben. Und zu ihrem und zu unserem Glück haben sie erfahren, dass das nicht stimmt. Sie haben Freude gehabt aneinander, nicht nur am Tag, sondern auch in der Nacht. Es war besser zu zweien als allein. Weil wir Menschen sind. Weil wir Körper sind und berührt werden möchten. Leidenschaft, nicht Peinlichkeit. Wenn wir in Wittenberg das ganze Wochenende feiern, dass Katharina und Martin geheiratet haben, dann feiern wir auch, dass die beiden zusammengebracht haben, was zusammengehört und was man nicht trennen kann: Die Liebe mit und ohne Küssen.

Gar nicht ankommen bei den anderen, nicht so ankommen, wie man es sich wünscht, angenommen sein und verstanden werden, missverstanden werden, sich abwenden, einen neuen Anfang versuchen, um die anderen kämpfen, resignieren, sich aneinander freuen, die anderen langsam gut kennen, Neues entdecken, ziemlich genau wissen, was einen stört, trotzdem zueinander halten, nicht aufgeben, schon glauben, aufgeben zu müssen, dranbleiben, investieren und etwas zurückbekommen, investieren und nichts zurückbekommen, etwas geschenkt bekommen, nichts geschenkt kriegen, enttäuscht werden, überrascht werden. So ist das in Beziehungen. Und so ist es unter Christen. Da gibt es keine Unterschiede. Was wir haben, ist doch mehr als gemeinsame Interessen. Es geht um Leidenschaft füreinander. Um Liebe. Ohne Küssen und mit.

Mit der Liebe ist es wie mit Gott selbst. Der Gott der Liebe und des Friedens ist ein Gott voller Beziehungen. Auch so kann man das Geheimnis der Trinität verstehen. Und es lässt sich nicht trennen, was zusammengehört, Gott als Vater, als Sohn und als Heiliger Geist. Die Liebe lässt sich nicht trennen in verschiedene Sorten, die zu verschiedenen Zeiten dran sind. Ubi caritas et amor, deus ibi est. Wo Liebe ist, mit Küssen, ohne Küssen, da ist Gott.

Ich vergesse nicht, was ich einmal erlebt habe bei einem Abendmahl. Da war eine alte Frau im Kreis. Sie war bei den Abkündigungen mit Namen genannt und aus der Gemeinde verabschiedet worden, weil sie nicht mehr länger alleine leben konnte. Sie würde zu ihren Kindern ziehen, weiter entfernt. Wir alle standen da und ein Mann aus dem Kirchgemeinderat teilte das Brot aus. Als er zu ihr kam, sah er sie einen Moment lang an und streichelte ihr die Wange, ganz kurz nur, bevor er ihr das Brot gab. Das war Liebe ohne Küssen. Und mit.

Die Gnade des Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

Amen.

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