I. Auffällig unauffällig
Von manchen kennt man nur noch die Namen. Ein Gesicht fällt einem nicht mehr dazu ein. Jetzt, kurz vor den Ferien, ist wieder die Zeit der Zeitungsbeilagen, in denen die Namen all derer veröffentlicht werden, die einen Abschluss erreicht haben. Lange Listen von Namen sind das, manchmal sogar mit Fotos. Aber aus eigener Erfahrung könnte ich allen, die dort genannt werden, sagen: Wartet mal ein paar Jahre. Dann fällt euch nicht mehr zu allen Namen das Gesicht ein.
Besonders trifft das auf diejenigen zu, die es in jeder Schulklasse gibt. Und nicht nur dort, sondern überall da, wo Menschen eine Zeitlang in einer Gruppe zusammen sind: Auf die Unauffälligen. Sie sind immer dabei, aber das ist auch schon alles, was es über sie zu sagen gibt. Sie haben keine besonderen Eigenschaften oder herausragende Fähigkeiten. Sie sind weder besonders schön noch besonders hässlich. Sie sind in allem, was man sich denken kann, das Mittelmaß. Liest du ihren Namen, hast du kein Gesicht dazu. Triffst du sie irgendwann wieder, fällt dir ihr Name nicht ein.
Genau so ein auffällig Unauffälliger ist auch Philippus. In allen Evangelien wird er unter den zwölf Jüngern genannt. Aber mehr erfährt man nicht über ihn. Er ist eben mit dabei. Er macht den Zwölferkreis voll, was man nur mit einigem guten Willen als eine Aufgabe bezeichnen kann. Das Problem, eine bestimmte Anzahl von einigermaßen geeigneten Kandidaten für die Nachfolge zu finden, stellte sich offenbar schon Jesus selbst. Es plagt also nicht nur uns bei den Gedanken an die bevorstehenden Gemeindekirchenratswahlen in diesem Jahr am ersten Advent. Erschwerend kommt hinzu, dass von den Nachfolgerinnen Jesu meistens geschwiegen wird und sie im erlauchten Zwölferkreis gar nicht erst auftauchen.
Philippus also, erst einmal nur ein Name in einer Liste, einer Aufzählung, kein Gesicht dazu. Erst der vierte Evangelist, Johannes, erbarmt sich ein bisschen über ihn und holt ihn aus seiner Eigenschaftslosigkeit heraus. Philippus kommt, soviel erfahren wir immerhin, aus dem gleichen Ort wie die Jünger Andreas und Petrus, aus Betsaida.
Und so, wie der Evangelist Johannes sie beschreibt, ist die ganze Sache mit der Nachfolge eine ziemlich zufällige Angelegenheit. Andreas war vorher ein Jünger von Johannes dem Täufer und hat sich irgendwie neu orientiert. Simon ist der Bruder von Andreas und wird von Jesus sofort in Petrus umbenannt. Das bedeutet „Fels“. Aber man darf hier im ersten Kapitel des Johannesevangelium schon ein bisschen spoilern und verraten, dass sich die in Petrus gesetzten Hoffnungen auf seine Standhaftigkeit besonders für Jesus nicht erfüllen werden. Wir hören den Hahn schon durch das erste Kapitel krähen. Und dann findet Jesus noch Philippus, den Andreas und Petrus vielleicht auch kennen, so wie man sich kennt, wenn man aus demselben Ort kommt.
So sieht also die Nachfolgestrategie Jesu aus: Abwerbung, familiäre Bindungen, zweifelhafte Eignung, ein bisschen herbeigesucht wirkende Gemeinsamkeiten. In der Handreichung für die Gemeindekirchenratswahl 2025 wird genau vor so etwas ausdrücklich gewarnt. Aber das Wort Kompetenz kannte Jesus vielleicht gar nicht. Er sucht die Menschen, die ihm nachfolgen sollen, jedenfalls nicht danach aus. Jesus sucht überhaupt nicht. Er findet die Menschen, die ihm nachfolgen. Und jeder von uns weiß, wie unendlich viel schöner es ist, zu finden, anstatt zu suchen.
Philippus macht es dann sofort genauso. Er findet Nathanael und bringt ihn zu Jesus. Auch seine Suche nach Nachfolgern Jesu ist bemerkenswert lässig. Das Diskutieren fängt er gar nicht erst an. Er lässt Nathanael getrost seine Vorurteile pflegen. Auf die skeptische Frage „Was kann aus Nazareth Gutes kommen?“ gibt Philippus gar keine Antwort. „Komm und sieh!“ ist alles, was er sagt.
Und deswegen ist das mit der Nachfolge damals so einfach gewesen, deswegen war da so viel Finden und so wenig Suchen. Weil Philippus und alle anderen diesen Satz sagen konnten, „Komm und sieh!“. Und alle sehen konnten, dass es bei Jesus wirklich anders war als sonst in der Welt. Bei Jesus geht es nicht um Besitz und um Macht und persönliche Eitelkeit. Es geht darum, bei denen zu sein, denen das alles fehlt, bei den Armen und Schwachen und Entwürdigten.
„Komm und sieh!“. Um diesen Satz beneide ich Philippus. Darum, dass er ihn sagen kann. Und nicht wie ich gleich denken muss: Aber sieh lieber nicht so genau hin bei uns in der Kirche, wie es da zugeht. „Komm und sieh!“ Wenn ich diesen Satz sagen könnte, aus ehrlicher Überzeugung und aus tiefstem Herzen, dann wäre das mit der Nachfolge und auch das mit der Werbung für die Gemeindekirchenräte auf einmal nicht mehr schwierig. Dann würde das alles auffällig unauffällig funktionieren. So, wie Philippus es macht. So, wie Philippus ist.
II. Unberechenbar
Ich stehe mit Philippus auf dieser Wiese am See und gucke mir mit ihm die 5000 Männer an, die sich da im Gras am Ufer gelagert haben und die von Luft und Liebe nicht werden leben können. Frauen und Kinder haben sie auch noch dabei. Es ist plötzlich ein Festival mittlerer Größe geworden und es geht schon gegen Abend. Aber niemand macht Anstalten aufzubrechen. Um uns herum nur Landschaft und der See und nirgendwo gibt es etwas zu essen. Fast, als wären wir nicht Galiläa, sondern in Brandenburg, Philippus und ich. Und Jesus natürlich. Der gleich wieder eine seiner typischen Fragen stellt, auf die man nicht weiß, was man sagen soll. „Wo kaufen wir Brot, damit diese zu essen haben?“ Was für eine gemeine Frage, Jesus. Hier gibt es doch gar kein Wo. Hier ist nur Landschaft und der See und die nächste Einkaufsmöglichkeit befindet sich einige Kilometer entfernt. Wer kennt es nicht?
Philippus und ich stehen auf dieser Wiese am See und denken dasselbe. Wir sind uns ähnlich. Wir haben die Realitäten im Blick. Wir schätzen die Lage richtig ein. Viel Volk ist Jesus nachgezogen, na gut. Wir ahnen, dass sich die ganze Begeisterung hier aber ganz schnell wieder auflösen wird, wenn nicht einmal die Grundbedürfnisse gedeckt werden können.
Philippus muss sich noch schlechter fühlen als ich. Ich denke bloß an das Wo und Wie. Er denkt gleich weiter, an das Wovon und Wieviel. Denn im Gegensatz zu mir kann er auch noch rechnen und überschlägt im Kopf, was das alles kosten würde. 200 Silbergroschen sind schon eine Unsumme. Reichen würde sie trotzdem nicht. Womit Philippus nicht rechnet, das ist Jesus. Der alles weiß, was wir in unseren Köpfen haben, all das Wo und Wie und Wovon und Wieviel, das uns bis auf den heutigen Tag umtreibt, wenn es um die Menschen geht, die Jesus nachfolgen. Irgendwann haben sie die Wiese am See verlassen, sich Kirche genannt und sind dazu übergegangen, möglichst überall kleine Dorfkirchen oder noch schlimmer große Kathedralen oder am schlimmsten, sogar Gedächtniskirchen hinzustellen. Aus Angst vor sich wieder auflösender Begeisterung vielleicht. Mit dem Ergebnis, dass das Wovon und Wieviel allein für die Unterhaltung dieser Gebäude sie die gesamte dann noch bleibende Zeit der Kirche Jesu Christi beschäftigen und Unsummen an Silbergroschen verschlingen wird.
Ich stehe mit Philippus auf der Wiese am See und würde ihm gerne sagen: Jesus hat nur einen Witz gemacht, Philippus. Er ist doch immer so unberechenbar. Er weiß, dass man hier nichts kaufen kann. Und du kannst aufhören, im Kopf schon mal zu überschlagen, was das alles kosten würde Das, was wir wirklich brauchen, kommt ganz woanders her. Nichts gegen realistische Einschätzungen unserer Lage. Aber bitte auch das Vertrauen, das Wunder geschehen können und Unberechenbares auch, einfach so. Philippus hat das dann tatsächlich gleich verstanden. Ich arbeite noch dran.
III. Deutlich
Philippus war mit Jesus unterwegs. Und das war ein fragloses Unterwegssein, mit dem entspannten Gefühl, das sich einstellt, wenn man einen dabeihat, der den Weg genau kennt. Niemand muss sich allein durch die Tage und das Leben navigieren, denn sie folgen ja Jesus nach. Sie sind gefunden worden. Und das mit dem Suchen ist für sie zu Ende. Doch wenn das Unterwegssein zu fraglos wird, ist es auch wieder nicht gut. So ähnlich wie bei der Anreise hierher, wenn Google Maps beharrlich etwas vorschlägt, was wir nicht so richtig nachvollziehen können. Dann breitet sich ein Aufbegehren im Auto aus und plötzlich ist alles in Frage gestellt.
Google Maps besitzt leider nicht die Fähigkeit, Zweifel an der eingeschlagenen Richtung zu erkennen. Aber Jesus schon. Er weiß nicht nur den Weg, er ist sogar der Weg, sagt er über sich selbst, deutlich, unmissverständlich.
Und da gibt es ein leises Aufbegehren, von Philippus, der sich doch sonst immer so unauffällig verhält. Jesus ist der Weg, aber Philippus möchte die Abkürzung. „Zeige uns den Vater!“
Bis fast zum Ziel ihrer gemeinsamen Reise hat Philippus seine Zweifel an der eingeschlagenen Richtung für sich behalten. Weil sie Zweifel an Jesus bedeuten. „Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben, Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth“, so hatte Philippus es selbst zu Nathanael gesagt, ganz am Anfang des Weges mit Jesus. Und es scheint so, als sei er sich plötzlich nicht mehr sicher. Ist Jesus wirklich Gottes Sohn oder doch nur Josefs Sohn aus Nazareth?
„Zeige uns den Vater!“ Jesus kommt der Aufforderung des Philippus nicht nach. Denn dann würde er von sich wegweisen. Aber Jesus ist kein Wegweiser und auch kein Weg-Weiser. Jesus ist der Weg, auf dem die Wahrheit und das Leben zu finden sind. Immer wieder muss diese Richtungsangabe aktualisiert werden. Zweifel und innere Aufbegehren sind in der Nachfolge Jesu ausdrücklich erlaubt. Sie helfen sogar dabei, sich zu orientieren. An Jesus, der den Weg nicht nur kennt, sondern der selbst der Weg ist.
Philippus, nur ein Name auf einer Liste, in einer Aufzählung. Lese ich jetzt seinen Namen, dann sehe ich ihn: Philippus, den auffällig Unauffälligen. Den, der gerne alles genau berechnen würden. Den mit den Zweifeln an der eingeschlagenen Richtung und dem inneren Aufbegehren. Ich sehe, wie Jesus ihn findet, so wir er uns findet, uns auffällig Unauffällige, die gerne alles genauer berechnen würden und alle so ihre Zweifel haben. Und ich verstehe: Das ist Nachfolge. Sie führt uns zu Jesus. Er hat uns schon lange gefunden. Von ihm sind täglich Wunder zu erwarten. Er zeigt uns den Weg. Weil er der Weg ist.