Nehmt einander an

Eine Predigt zu Römer 15, 4-13

Advent ist im Dezember, darauf weisen ja die Christen immer hin. Also kann es doch jetzt wohl losgehen. Die Weihnachtsfeier in der Schule machen wir gleich am 1. Dezember, denn die Adventszeit ist wieder kurz dieses Jahr und je mehr es auf Weihnachten zugeht, desto hektischer wird es doch. Ich habe mich zu zwei vorweihnachtlichen Stunden in der Schule eingefunden. Es gibt Kaffee, Kinderpunsch und Plätzchen. Die Kinder führen ein kleines Theaterstück auf. Dann basteln wir. Aus dem CD-Spieler kommen gemischte weihnachtliche Klänge, die „Weihnachtsbäckerei“, gefolgt von einer mit erheblichem Pathos vorgetragenen Version von „Es ist ein Ros entsprungen“. Der Weihnachtsmann kommt und holt für jedes Kind ein Geschenk aus seinem Sack. Später gehen wir mit unserer Bastelarbeit nach Hause. Es ist so eine Art Adventskranz aus Buntpapier zum Aufhängen geworden. Die Plätzchen hätten sehr gut geschmeckt, sagt meine Tochter. Der Kranz kommt bei uns ins Fenster.
Advent ist im Dezember und heißt Plätzchen, Dekoration, stimmungsvolle Musik, die Freude der Kinder. Das ist bei mir nicht anders als bei allen anderen. Ich höre einen schmalzigen Tenor singen „von Jesse kam die Art“ und weiß sogar, was das bedeutet. Aber das bleibt trotzdem Hintergrundmusik zum Kaffee. In der Schule erwarte ich auch nicht unbedingt, dass da noch mehr kommt, auch nicht bei der Weihnachtsfeier bei der Arbeit oder im Verein.

Aber in den Kirchengemeinden? Advent ist im Dezember. Wir wissen das. Und benutzen das, um uns schon mal im September über die anderen aufzuregen. Irgendwer kauft ja die Dominosteine. Wir sind es nicht. Und wenn dann endlich Dezember ist – da gibt es dann viele Feiern bei uns. Sie unterscheiden sich aber nicht wesentlich von dem, was ich in der Schule erleben kann. Kaffee, vielleicht sogar fair – aber bitte nur den aus der beschrifteten Dose im eigenen, sorgfältig beschrifteten Fach im Küchenschrank der Gemeindehausküche nehmen. Kuchen – aber was übrig bleibt, das lassen wir nicht stehen, für die nächste Weihnachtsfeier, sondern nehmen es schön wieder mit nach Hause. Ja, eine Andacht gibt es natürlich. Aber „In der Weihnachtsbäckerei“ singen wir trotzdem hinterher gerne.
Und am Heiligabend sind wir dann alle wieder zusammen und regen uns gemeinsam über die U-Boot-Christen auf, die keine Ahnung haben, wie man sich in einer Kirche benimmt und sich einfach auf die Plätze setzen, von denen doch jeder weiß, dass es schon seit Jahrzehnten unsere sind. Aber was will man erwarten? Schon bei der Konfirmation im Mai haben die sich ja so daneben benommen…

Das ist übertrieben. Aber so übertrieben nun auch wieder nicht. Was würde Paulus wohl uns schreiben, wenn er gerade jetzt in der Adventszeit die Wirklichkeit in unseren christlichen Gemeinden sehen würde? Sie sind häufig eher so eine Taschenausgabe der Gemeinschaft, die die großen christlichen Kirchen haben – oder auch nicht haben. Nur machen sich die meisten Menschen, die der Kirche und dem Glauben nicht so nahe stehen, ihr Bild von Kirche anhand konkreter Erfahrungen. Es bildet sich nicht aus der Wahrnehmung offizieller Verlautbarungen, sondern daraus, wie die christliche Gemeinde vor Ort wahrgenommen wird. Ist sie offen, einladend, gastfreundlich? Oder doch eher ein Verein, der so ein bisschen für sich ist und dessen Mitglieder sorgfältig darüber wachen, wer dazu kommen darf und wer nicht? Und wie einig sind sich die bei der Kirche eigentlich untereinander? Da hört man ja so einiges. So “einträchtig gesinnt“ sind die wohl auch nicht. Da sieht es ja im Fußballverein manchmal besser aus…

Paulus schreibt an eine Gemeinde, die er gar nicht kennt. Er hat schon so einiges über sie gehört und kennt auch ähnliche Konflikte aus den Gemeinden, die er selbst gegründet hat. In Rom streiten sie darüber, ob Christen bestimmte jüdische Speisevorschriften einhalten müssen oder nicht. Einige sind sich nicht sicher. Einige verfahren nach dem Motto „schaden kann es ja nicht“. Einige haben es sowieso schon immer so gemacht. Einige stellen alles in Frage. Einige wollen auf Nummer Sicher gehen. Einige alles über Bord werfen.
Für eine Gemeinde, die auch wir gar nicht kennen, hört sich das ziemlich bekannt an. Das war wahrscheinlich immer so und wird sich wohl auch nicht ändern, wenn Menschen zusammen kommen und zusammen sein wollen.
Paulus schätzt die Lage in Rom realistisch ein. So ist es wohl im Zusammenleben. Wenn es mehr sein soll als ein Nebeneinander-Her, dann wird es Konflikte geben. Wer immer recht behalten will, der darf nicht heiraten – und auch nicht zu einer christlichen Gemeinde gehören wollen. Sein halbes Leben war Paulus damit beschäftigt, in den Gemeinden, die er gegründet hat, Streit zu schlichten und zu vermitteln.

Die Worte, die er damals nach Rom geschrieben hat, werden wahr, über die Zeiten hinweg für uns in unseren Gemeinden. Der Brief des Paulus ist jetzt ein Teil unserer Bibel. Und dass es schon immer so war und wohl immer so sein wird unter den Christen – darin ist Hoffnung. Denn es ist ja trotzdem weiter gegangen mit der christlichen Kirche und wird weitergehen. Eine Hoffnung, die wir jetzt, heute „durch Geduld und den Trost der Schrift“ (Röm 15,3) haben. Auch wenn wir in die Küche des Gemeindehauses kommen und als erstes sorgfältig beschriftete Dosen und Regale sehen.

„Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat!“ Es wäre nicht schlecht, sich diese Worte aus dem Brief des Paulus in den Flur des Gemeindehauses zu hängen. Wobei es dann wahrscheinlich gleich wieder unterschiedliche Meinungen über die künstlerische Qualität dieses Posters geben würde. Wir können eben schwer aus unserer Haut.
Paulus denkt das Einander-Annehmen sowieso größer. Wir gehören zu Gott, weil durch Jesus Christus die Menschen aus allen Völkern in den Bund Gottes mit dem Volk Israel mit hineingenommen sind. Wir waren auch einmal die anderen. Und jetzt gehören wir dazu.
Paulus wünscht sich einfach nur, dass diese Grunderfahrung des Angenommen-seins nicht vergessen wird in den christlichen Gemeinden. Wer sich geliebt und angenommen fühlt, müsste doch anders mit anderen Menschen umgehen. In der Gemeinde. Und darüber hinaus. Das können die Christinnen und Christen in diese Welt hineinbringen.

Ich will das Einander-Annehmen auch anders denken. Und größer. Wir haben in unserem Land schwere politische Auseinandersetzungen über die Frage, wie man mit den Menschen umgehen soll, die als Flüchtlinge nach Europa kommen. Es ist beängstigend, zu sehen, wie leicht die Werte des sogenannten „christlichen Abendlandes“, die Werte Europas im Sinne des Wortes „über Bord geworfen“ werden, wenn es um die Aufnahme aus Seenot geretteten Flüchtlinge in europäischen Häfen geht. Und es wird leicht vergessen, wie viele christliche Gemeinden sich angestrengt haben und immer noch anstrengen, die Geflüchteten aufzunehmen und willkommen zu heißen. Auch das ging und geht nicht immer ohne Auseinandersetzungen ab. Aber es ist ein Zeichen für Geduld und Hoffnung der Christinnen und Christen, dass sie es als ihre Aufgabe erkannt haben. Sie sind „reicher an Hoffnung“ als viele andere Menschen in unserem Land. So, wie Paulus es uns wünscht.

Ich will das Einander-Annehmen anders denken. Und größer, über die Gemeinde hinaus zu den Menschen, die bei Paulus „Heiden“ heißen. Damals waren die Christen die, die dazu gekommen sind. Heute sind es die Menschen, die man als „religiös indifferent“ bezeichnet. In unseren Gemeindehäusern und auch in unseren Gottesdiensten kommen sie sich häufig deplatziert vor. Aber sehr viele von ihnen kommen in einigen Tagen, am Heiligen Abend, in die Kirche. Was heißt es in dieser konkreten Situation für uns, sie anzunehmen?
Ich würde sagen: Begrüßen statt ignorieren. Lächeln statt Blicke werfen. Zusammenrücken in der Bank statt die Jacke über die halbe Reihe zu legen. So klein ist das Einander-Annehmen manchmal. Und so leicht.
Nehmt einander an. Paulus hätte ruhig ein Ausrufezeichen dahinter setzen können. Nehmt einander an! Damit „Freude und Friede im Glauben“ nicht bei uns bleiben, sondern sich ausbreiten in unserer Welt.

Amen.

Gebet

Guter Gott,
wir sind auf dem Weg nach Weihnachten.
Die Freude in uns soll stärker sein,
als die Sorge, nicht allem und allen gerecht zu werden,
Die Stille soll lauter sein
als der weihnachtliche Trubel,
die Liebe größer
als die Lust zu streiten.
Freude und Stille und Liebe
kommen von dir Gott,
in unsere Herzen.
Öffne uns für dich.
Amen

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