Nichts mehr fragen

Und an jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. Das sagt Jesus einmal zu seinen Freunden. Und ich glaube, er tut es mit dem gleichen innerlichen Seufzen wie ich manchmal. Denn das mit dem Fragen ist eine Sache, die zum Elternsein fast von Anfang an dazu gehört. Für die Entwicklung der Sprache ist das Fragealter unverzichtbar. Deswegen gibt es bei Kindern zwischen ein und vier Jahren sogar zwei davon: Im ersten Fragealter geht es um noch recht einfach zu beantwortenden Fragen nach Was? und Wo? Schon etwas anstrengender ist das zweite Fragealter, das mit etwa drei Jahren beginnt. Dann kommen die Warum?-Fragen. So vergrößern Kinder ihr Weltwissen und ordnen ihre Welt. Und nebenbei testen sie auch die Grenze der Geduld ihrer Eltern.

Einmal nichts gefragt werden: Ein selten geäußerter, gleichwohl tief empfundener Wunsch von Eltern. Aus meiner langjährigen mütterlichen Erfahrung muss ich leider mitteilen, dass das Fragealter mit dem Spracherwerb nicht beendet ist, im Gegenteil. Denn die Fragen wachsen mit den Kindern. In freier Übertragung einer bekannten Redewendung könnte man sagen „Kleine Kinder, kleine Fragen, große Kinder, große Fragen“. Irgendwann geht es auf einem anderen Level um das Gleiche: Wie die Dinge und die Welt funktionieren. Und das Leben.

Sie fragen mich per WhatsApp, wie die Waschmaschine eingestellt werden muss. Sie kommen später am Abend zu mir, um mir von dem zu erzählen, was sie bewegt – während ich eigentlich lieber ungefragt auf dem Sofa sitzen würde. Und manchmal stellen sie sich selbst und mir auch die ganz großen Fragen. Einmal nichts mehr gefragt werden, das wünsche ich mir manchmal. Aber nur ganz kurz. Denn in Wirklichkeit liebe ich sie sehr, all die kleinen und großen Fragen. Denn die Fragen sind die Verbindung.

Die Freunde von Jesus haben Angst, dass die Verbindung abreißt. Mehrmals hat Jesus ihnen schon angekündigt, dass ihnen allen ein Abschied bevorsteht, eine endgültige Trennung. Er hat das alles nur andeutungsweise und für sie rätselhaft gesagt, so, als könnte man ihnen wie Kindern die ganze Wahrheit nicht zumuten. Und wie Kinder bekommen sie davon erst recht Angst. Und ihre Fragen werden immer mehr statt weniger. Bis Jesus einmal Schschsch macht. Wie eine Mutter, wie ein Vater, wenn die Angst und die Fragen kommen.

An jenem Tage werdet ihr mich nichts fragen. Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er’s euch geben. Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. An jenem Tage werdet ihr bitten in meinem Namen. Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. Ich bin vom Vater ausgegangen und in die Welt gekommen; ich verlasse die Welt wieder und gehe zum Vater. Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. (Joh 16, 23-33, gekürzt)

Wenn ich nicht mehr bei euch bin, sagt Jesus, dann bleibt die Verbindung trotzdem. Auch das ist eine Erfahrung, die wir als Menschen machen. Besonders da, wo es im Leben über eine Schwelle geht, wo wir loslassen müssen. Gleich nach der Geburt fängt es an, mitten in dem überwältigenden Ineinander von Angst und Schmerzen und Freude. Auch Jesus weiß etwas davon. Er erwähnt es gegenüber seinen Freunden, als Beispiel. Ein Mensch wird geboren und die erste Trennung wird von der ersten Verbindung aufgefangen. Ein Mensch wird groß und es geht die ganze Zeit darum, wie Trennung und Verbindung zusammenbleiben. Und wenn ein Mensch stirbt, bleibt die Verbindung trotzdem. Dann spürt man sie so, dass es wehtut.

Immer wenn Abschiede oder Trennungen mit ihrer Angst und ihren Schmerzen ins Leben kommen, dann kommen auch die Fragen: Was? und Wo? zuerst. Als wären wir immer noch wie kleine Kinder auf der Suche nach Orientierung in der Welt. Und danach kommt dann ziemlich schnell die Frage für Fortgeschrittene: Warum?

Eine Frage: Kommen wir eigentlich nach dem Spracherwerb jemals aus dem Fragealter heraus? Egal, wie weit wir es mit dem Sprechen, mit der Fähigkeit, uns auszudrücken, mit der Orientierung in der Welt und im Leben gebracht haben: Irgendwann kommen doch die Fragen. Und schnell sind wir wieder bei der Frage nach dem Warum? Jede und jeder hat doch seine eigene Variante dieser Frage.

An jedem Tage werdet ihr mich nichts mehr fragen, sagt Jesus. Aber bis dahin sind die Fragen die Verbindung. Zu ihm und durch ihn zu Gott, seinem Vater. Schschsch macht Jesus und sagt seinen Freunden und uns: Es ist gut. Gott liebt dich.

Es wäre der Glaube von Kindern, wenn man immer dabei bleiben würde, dass dies die Antwort auf alle Fragen ist: Gott liebt dich. So wollte man es mir beibringen, als Kind und als Jugendliche auch noch. Aber ich habe gemerkt, dass es nicht so einfach ist: Gott liebt mich. Aber die Fragen habe ich trotzdem. Zum Glück habe ich die Verbindung halten können. Und gerade die Fragen sind meine Verbindung zu Gott geworden, besonders bei den Abschieden und Trennungen in meinem Leben, bei dem, was mir Angst gemacht und mir weh getan hat. Und nach und nach ist mein Glaube erwachsen geworden. Die Fragen kommen immer mit. Und es macht nichts, dass sie größer geworden sind mit der Zeit.

An jenem Tage werdet ihr mich nichts mehr fragen, sagt Jesus. Aber bis dahin könnt ihr alles fragen. Ihr könnt Gott, meinen Vater, alles fragen. Und das nennt man dann beten. Wenn man seinen Spracherwerb auf das Lateinische ausgeweitet haben sollte, könnte man das wissen. Denn das lateinische Wort rogare, von dem dieser Sonntag Rogate heute seinen Namen hat, das heißt gar nicht beten. Es heißt fragen.

Aber eigentlich braucht man dafür kein Latein, sondern nur ein bisschen Erfahrung im Leben und im Glauben. Gar nicht so selten kommt es vor, dass wir abends spät noch auf dem Sofa sitzen, meine Fragen und ich. Und dann wünsche ich mir manchmal sehr den Tag herbei, an dem die Fragen aufstehen und den Raum verlassen und nicht mehr wiederkommen. Aber bis es soweit ist, bleiben sie bei mir. Denn sie sind die Verbindung. Und nach und nach erwerbe ich die Fähigkeit, sie zu lieben.

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