Orte der Erinnerung

Ein Tor, durch das ein Bahngleis führt, aber weit weniger hoch und dräuend, als ich es von dem einen, unendlich oft gesehenen Foto kenne. Ein kurzes Überrascht-Sein, als mir klar wird, dass der Standpunkt des Fotografen innerhalb des Lagers gewesen sein muss: Die Gleise führen nicht erst hinein. Der Fotograf war schon drinnen, auf dem Lagergelände, und fotografierte hinaus. Er muss nah an dem gestanden habe, was ich nur als „Rampe“ kenne. Die aber, wie ich feststellen muss, gar keine Rampe ist, jedenfalls keine richtige aus Holz oder Stein, sondern nur eine Art unbefestigter Bahnsteig aus Schotter und Sand.

Es ist nicht sehr weit von dieser Rampe bis zu den Ruinen links und rechts, bis zu dem, was von den Gaskammern und den Krematorien nach der Sprengung noch übriggeblieben ist. Wer die Fahrt in den Waggons überlebte, hat auch diesen letzten Weg wohl noch gehen können, geblendet vom Licht, zu Tode erschöpft, durstig und verwirrt, vorbei an den gleichförmigen Baracken in ihren exakten Abständen bis sie in die unterirdischen Räume kamen, in denen sie sich ausziehen mussten und ihre Schuhe zu Paaren binden.

Ich war in der vergangenen Woche zum ersten Mal in meinem Leben in Auschwitz, an dem Ort, der kein Ort mehr ist, sondern ein Inbegriff, für das, was wir Holocaust nennen oder Shoah. Schon mein ganzes Leben lang weiß ich von diesem Ort. Ich war dort mit Primo Levi, mit Imre Kertesz, mit Ruth Klüger und Tadeusz Borowski. Ich habe so viele Bücher gelesen und Filme gesehen. Diese Worte, Holocaust und Shoah, hatten für mich den Klang erhabener, sich aller menschlichen Vorstellungskraft stets entziehender Schrecklichkeit.

Aber nun war ich da und habe gedacht: Hier soll es gewesen sein? Das hat wirklich ausgereicht, dieses nicht übermäßig große Torgebäude, die zwei Bahngleise, die unbefestigte Rampe, die zwei Gebäude mit den Gaskammern und Krematorien – hier ist der Ort, an dem über eine Million Menschen ermordet worden sind?

Das hat ausgereicht. Weil es den unbedingten Willen gab, diese Vernichtung von Menschen ins Werk zu setzen und es letztlich nur eine Frage der Organisation war. Und weil durch diesen Willen zur Vernichtung von Menschen jeder Ort zu einem Ort wie Auschwitz werden kann. Auch Orte hier im nördlichen Charlottenburg, nicht irgendwo weit außerhalb, sondern mitten in der Stadt.

Erinnerungsorte sind sie nicht deswegen, weil genau hier und historisch belegbar etwas geschehen ist, über das wir in Büchern lesen oder was wir in Filmen sehen. Sondern weil wir diese Orte sehen und uns wundern, wie unspektakulär sie sind. Weil wir an diesen Orten begreifen, wie wenig ausreicht, damit Ortsnamen zu Inbegriffen werden.

Denn die Orte kommen erst ganz zuletzt. Beginnen tut es mit dem Willen, andere Menschen abzuwerten, ihnen ihre Würde und ihre Rechte zu nehmen. Beginnen tut es, wenn dies ohne deutlichen Widerspruch geäußert werden kann. Bis den Worten irgendwann Taten folgen, an Orten, die einmal normale Namen hatten. Wie Plötzensee, wie Auschwitz. Einmal – und nie wieder.

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