Psalmen in Auswahl
Predigt zu Psalm 31 am 2. März 2025
„Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir heimlich stellten; denn du bist meine Stärke. Ich hasse, die sich halten an nichtige Götzen. Ich aber vertraue auf den Herrn. Denn ich höre, wie viele mich verleumden: Schrecken ist um und um!
Sie halten Rat miteinander über mich und trachten danach, mir das Leben zu nehmen. Errette mich vor der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen. Verstummen sollen die Lügenmäuler, die da reden wider den Gerechten frech, stolz und höhnisch.“ (Psalm 31 in Auswahl)
Das sind Verse aus Psalm 31. In Auswahl, wie es immer im Gesangbuch und im Perikopenbuch heißt. Ich benutze diese Bücher, wenn ich Gottesdienste vorbereite. Und ich weiß auch, was Perikope heißt: Das Ausgeschnittene. Denn natürlich kann die Bibel nicht kapitelweise Grundlage einer Predigt sein. Man muss schon auswählen und die Texte in mund- und gedankengerechte Portionen für jeden Sonntag aufteilen. Besonders häufig wird das mit den Psalmen gemacht. Da wird auch ausgeschnitten und gekürzt. Und dabei werden oft sehr bewusst Verse weggelassen.
Der Psalm für diesen Sonntag ist ein gutes Beispiel dafür. Psalm 31 ist ein Lied voller Klagen und Vertrauen auf Gottes Hilfe. Besonders in der Fassung von Heinrich Schütz klingt das heraus: Hilf mir, rette mich. Es muss doch schlimm sein und dringend, wenn jemand so um Hilfe ruft. Aber trotzdem ist es merkwürdig leicht, sich von diesen Hilferufen zu distanzieren. Das liegt wohl daran, dass dies nicht meine Not ist. Aber auch daran, dass etwas Entscheidendes fehlt: Hilf mir, rette mich, ruft einer. Und ich weiß nicht, worum es geht und frage: Wovor denn?
„Mit gutem Grund nenne ich gewöhnlich das [Psalm]buch eine Anatomie aller Teile der Seele. Denn jede Regung, die jemand in sich empfindet, begegnet als Abbild in diesem Spiegel. Ja, hier hat uns der Heilige Geist alle Schmerzen, Traurigkeit, Befürchtungen, Zweifel, Hoffnungen, Sorgen, Ängste, Verwirrungen, kurzum all die Gefühle, durch die Menschen innerlich hin und her geworfen werden, lebensnah vergegenwärtigt.“ (CStA 6, 21)
Das schreibt der Reformator Johannes Calvin. Nüchternheit und Strenge sagt man ihm nach. Die Bilder, die es von ihm gibt, und vor allem die Bilder, die man sich von ihm macht, legen das nahe. Calvin hat die Psalmen ganz besonders geliebt. Er war der Meinung, dass man sich die ganze Sache mit dem Dichten anderer Lieder für den Gottesdienst auch einfach sparen könnte. Weil wir ja schließlich die Psalmen Israels haben, in denen alle Regungen der menschlichen Seele ihren Ausdruck finden. Der reformierte Psalmengesang ist aus diesem Denken Calvins entstanden. Und es wurde streng darauf geachtet, dass in den Psalmen nichts gekürzt oder ausgelassen wird. Denn es ist ja alles vorhanden in ihnen, Lob und Klage, Dank und Bitte, Verzweiflung und Trost. Und auch die Sache mit den Feinden.
Calvin und mit ihm die verfolgten Protestanten im 16. Jahrhundert, die Hugenotten, konnten aus vollem Herzen Psalmen singen. Denn für sie gilt dasselbe wie für die Psalmbeter Israels. Sie kannten eigentlich nie etwas anderes als die Bedrohung durch Feinde von außen. Hilf mir, rette mich, sangen sie im 16. Jahrhundert mit Israel. Denn die Psalmen Israels geben immer die Antwort auf das Wovor. Weil sie die Existenz von Feinden aus ihrer geschichtlichen und politischen Erfahrung heraus nicht für eine Theorie halten konnten, sondern für eine Wirklichkeit.
Und auch die französischen Hugenotten kannten ihr Wovor sehr genau. Es waren die katholischen Herrscher in Frankreich. Die Hugenotten wurden wegen ihres Glaubens verfolgt und aus Frankreich vertrieben. Viele von ihnen starben oder mussten in anderen Ländern Europas Zuflucht suchen. Und sangen und beteten Psalmen in jedem Gottesdienst.
Heute dagegen werden für den sogenannten gottesdienstlichen Gebrauch sehr oft Verse aus den Psalmen weggelassen. Meistens diejenigen, in denen es um die Feinde und um Rache. Weil man das nicht so gerne hört, dass es das gibt in dieser Welt?
Viele Psalmen werden David zugeschrieben, auch Psalm 31. Und wer den Namen David hört, erinnert sich vielleicht auch an den Moment, als David die Bühne der Bibel betreten hat:
„Da trat aus den Lagern der Philister ein Riese mit Namen Goliat aus Gat, sechs Ellen und eine Handbreit groß. Der hatte einen ehernen Helm auf seinem Haupt und einen Schuppenpanzer an, und das Gewicht seines Panzers war fünftausend Schekel Erz, und hatte eherne Schienen an seinen Beinen und ein ehernes Sichelschwert auf seinen Schultern. Und der Schaft seines Spießes war wie ein Weberbaum, und die eiserne Spitze seines Spießes wog sechshundert Schekel, und sein Schildträger ging vor ihm her. Und er stellte sich hin und rief den Schlachtreihen Israels zu: Was seid ihr ausgezogen, euch zum Kampf zu rüsten? Bin ich nicht ein Philister und ihr Sauls Knechte? Erwählt einen unter euch, der zu mir herabkomme.“ (1. Sam 17, 5-8)
Und wer herabkommt, ist David. Diesem aufgerüsteten Riesen, dem ganzen militärischen Stolz der fremden Besatzungsmacht muss David entgegentreten. Ein Hirtenjunge, bewaffnet nur mit einer kleinen, selbstgebastelten Steinschleuder. Natürlich hatte er Angst. Wie hätte er denn keine Angst haben sollen? Sein Wovor konnte er beim besten Willen nicht übersehen, denn es stand ihm gegenüber, sechs Ellen und eine Handbreit groß. Und David hatte schon da die Verse aus Psalm 31 im Kopf, in Auswahl: „Du wollest mich aus dem Netze ziehen, das sie mir heimlich stellten; denn du bist meine Stärke. Errette mich vor der Hand meiner Feinde und von denen, die mich verfolgen.“
Ich habe David in den Nachrichten gesehen. Es war am Freitag Abend. Er war klein und hatte einen schwarzen Pullover mit dem ukrainischen Wappen darauf an, wie immer. Und sie haben ihm ein Netz gestellt. Sie haben ihn verleumdet. Sie haben Rat miteinander über ihn gehalten. Sie verfolgen ihn und lügen und sind frech und stolz und höhnisch dabei.
Und die Verse aus Psalm 31, die wir lieber ausschneiden und weglassen, die im Gesangbuch und im Perikopenbuch keinen Platz mehr hatten, die kommen jetzt aus den Ecken, in denen man sie versteckt hatte und schütteln sich den Staub ab und kehren an ihren Platz zurück.
Denn die Zeiten sind vorbei, in denen wir bequemen Abstand halten und uns sagen, dass es ja nicht unsere Not ist. Das Wovor ist unübersehbar. Es steht vor uns allen, groß und großsprecherisch wie Goliat aus Gat. Und verhält sich, wie Feinde sich verhalten, was wir eigentlich schon wüssten. Wenn wir das nicht alles ausgeschnitten hätten aus Psalm 31 und aus unserer Wahrnehmung und unserer Wirklichkeit.
Natürlich hatte Wolodomyr Selenskyi Angst, dort im Oval Office. Wie hätte er auch keine Angst haben sollen? Und wie hätte er ruhig bleiben sollen angesichts der Verleumdungen und dem frechen und stolzen und höhnischen Reden über ihn und die Menschen in seinem Land?
Es geht mir nicht darum, Feindbilder zu schaffen. Es geht mir darum, dass wir einfach anerkennen müssen, dass es sehr wohl Feinde gibt, die Goliaths unserer Zeit, hochgerüstet und immer großsprecherisch. Aber zwischen uns und den Feinden ist Gott, der mit David war, der immer auf der Seite der Kleinen und Schwachen ist, der Unterdrückten und Verfolgten. Zu Gott kommen sie, mit ihren Klagen und ihren Tränen und ihrer Ohnmacht. Und wir beten und singen mit ihnen: „Die Gläubigen behütet der Herr und vergilt reichlich dem, der Hochmut übt. Seid getrost und unverzagt alle, die ihr des Herrn harret.“ (Psalm 31, 25)