Eine Predigt zu Jes 43,19 am 15. Januar 2012 in der Reformierten Kirche Bützow
Noch gibt der Pfarrgarten nicht viel her. Die immergrünen Buchsbaumhecken sind zwar auch im Winter schön und der große Baum ist ohne seine Blätter vielleicht noch eindrucksvoller, aber Blumen gibt es noch nicht. Deswegen ist die Glasschale auf dem Tisch gefüllt mit etwas Moos aus der hinteren Ecke des Gartens und mit einigen Schneeglöckchen. Sie blühen noch nicht, aber es ist schon zu sehen, dass es bald so weit sein wird. Mit ihren Zwiebelchen sind sie ausgegraben worden und sie haben Wasser bekommen. Im Haus ist es warm. Da wird es nur noch ein, zwei Tage dauern, bis sich die Blüten zeigen. Ein bisschen Frühling aus dem Pfarrgarten in der Glasschale auf dem Tisch. Keine zugekaufte Blütenpracht aus dem Treib- haus, sondern das, was da ist, mit seiner noch etwas dürftigen Schönheit.
Eine Glasschale mit Moos und Schneeglöckchen auf dem Tisch im Gemeinderaum in Bützow. Ein erster Eindruck, so unvergesslich, wie es nur erste Eindrücke sind. Und zu ihm gehören Worte. Seht, ich schaffe Neues, schon sprießt es, erkennt ihr es nicht? Zu diesem Wort haben sie, lieber Dr. Eyermann, eine kleine Andacht gehalten, zu Beginn meines Vorstellungsgesprächs Anfang März vor fast genau acht Jahren. Ein Wort, das gut passte zu den Schneeglöckchen und zu dem Anfang, der uns allen am Tisch bevorstand. Die erste Pfarrstelle für mich. Für die Gemeinde eine neue, junge Pastorin mit ihrer Familie. In dieser Situation war es nicht schwer, zuversichtlich und voller Hoffnung zu sein und von dem Neuen zu sprechen, das sprießt.
In den Jahren, die dann kamen, hat mich dieses Wort begleitet, in den neuen Anfängen und in dem, was gelungen ist in meiner Arbeit, aber viel mehr noch in den Situationen, in denen ich selbst diesem Wort nicht so recht glauben konnte. Zu Beginn meines Dienstes hier in Bützow wurde ich, glaube ich, ein bisschen bemitleidet von allen, die etwas mehr Lebens- oder auch Gemeindeerfahrung mitbrachten. Die erste Pfarrstelle und dann in dieser kleinen Gemeinde und dann auch noch im Osten, in Mecklenburg, in diesem Land, in dem alles immer erst fünfzig Jahre später passiert, wenn denn überhaupt mal etwas passiert. Sehr schnell habe ich gespürt, dass dieses vorauseilende Mitleid zwar gut gemeint, aber völlig unbegründet war.
Ich denke dabei immer wieder an die Schneeglöckchen auf dem Tisch. Ich denke an das, was da ist, in seiner mitunter etwas dürftigen Schönheit. Ich habe das zu sehen gelernt in den Jahren hier. Das schöne, stille Land, die kleine Stadt, in der es noch graue Häuser gibt und viele schöne. Die Menschen, denen ich begegnet bin und unter denen es graue gibt und bunte und stille und schöne und niemals nur schwarze und weiße. Keine zugekaufte Pracht aus dem Treibhaus hier. Und ein Leben mit dem, was da ist – manchmal musste ich Geduld haben, auch länger als ein, zwei Tage, bis ich sehen konnte, dass etwas Neues sprießt. Manchmal, besonders in den Jahren, die für mich persönlich schwierig waren, konnte ich es nicht sehen. Dann habe ich mich festgehalten an der dürftigen Hoffnung, dass das Neue irgendwo versteckt sein muss, ohne dass ich es schon erkennen könnte – so, wie ich auch im Winter weiß, dass die kalte schwarze Erde unter dem großen Baum im Pfarrgarten in Wahrheit voller Schneeglöckchen steckt.
Seht, ich schaffe Neues, schon sprießt es, erkennt ihr es nicht? Eine Hoffnung, von Gott, für dieses Land, für die Stadt, für die Menschen, für unsere kleine Gemeinde. Hineingesprochen hat sie der Prophet Jesaja in eine Situation, die ausweglos war. Die Menschen, zu denen Jesaja spricht, sind politische Gefangene, im Exil, von fremden Herrschern be- herrscht. Die Heimat ist weit weg und das Vertrauen auf Gott auch. Dunkel können sich einige vielleicht noch erinnern: Gott hat an seinen Menschen gehan- delt, er hat sie aus der Sklaverei in Ägypten befreit, sie durch das Wasser ziehen lassen, das über ihren Verfolgern zusammengeschlagen ist. Aber das ist schon lange her. Die Geschichte von Auszug und Befreiung ist längst Ge- schichte geworden. Einige, die es selbst miterlebt haben, spüren manchmal noch den Atem der Verfolger im Nacken und die ungeheure Erleichterung, als sie endlich angekommen waren im Land der Freiheit. Einige erinnern sich an diese Geschichte, andere haben sie schon gleich vergessen, als die ersten Schwierigkeiten in der Freiheit auftauchen. Die Fleischtöpfe in Ägypten, das hatte doch auch was für sich. Sklaverei hin oder her, alle hatten Arbeit und man musste sich nicht um alles selbst kümmern. Eine Geschichte über die Freiheit, die uns geschenkt wird, und was wir daraus machen. Eine Geschichte, die uns irgendwie bekannt vorkommt. Denkt nicht an das, was früher war, und was vormals war – kümmert euch nicht darum, das lässt Gott durch Jesaja ausrichten. Gottes Geduld mit uns ist sehr strapazierfähig. Er nimmt es mit Gelassenheit, sogar mit Humor, dass wir so vergessliche Menschen sind. Die Sklaverei in Ägypten, das Wunder der Befreiung, geschenkt, vergesst es ruhig, kümmert euch nicht darum, dass ich mich um euch kümmere, egal, wo ihr gerade seid. Auch hier, in eurer ausweglosen Situation. Ich fange immer wieder von vorne mit euch an, wenn es sein muss. Ich schaffe Neues, seht doch hin, erkennt ihr es nicht? Ein Weg durch die Wüste, ein Fluss in der Einöde, das verspricht Gott denen, die keinen Ausweg mehr sehen. Ein Überfluss an Hoffnung für alle, die hoffnungslos sind.
Seht, ich schaffe Neues, schon sprießt es, erkennt ihr es nicht? Die Jahre in Bützow haben mich gelehrt, genau hinzusehen. Das Wunder der Befreiung zu sehen, auch hier in der kleinen Stadt, in der es viele schöne Häuser gibt und auch noch graue. Ich denke an das, was früher war und wie es bis heute nachwirkt, an die Schwierigkeiten mit der Freiheit und das fehlende Vertrauen in das Neue. Dass die Kirchen ein Zuhause waren für die Freiheit, vor 1989 vielleicht noch mehr als danach, das habe ich gelernt. Dass die Kirchen und die Gemeinden es heute nicht leicht haben, der Hoffnung ein Zuhause zu geben, bei ihren kleinen Mitgliederzahlen und geringem Einfluss in der Gesellschaft, das habe ich erlebt, gerade in unserer sehr kleinen Gemeinde. Und dass das Neue doch erkennbar ist, wenn man gelernt hat, hinzusehen. Eine Stadt, die eine Kirche übernimmt, die fast schon eine Ruine war, sie saniert und erhält und großzügig ist mit dem Raum, der nun ihr gehört, das sehen wir, wenn wir uns hier umsehen. Ein Pastor, der sich in das Ehrenbuch der Stadt einträgt, wie es vorgestern beim Neujahrsempfang geschehen ist. Eine Gemeinde wie unsere reformierte Gemeinde, die wahrlich auferstan- den ist aus Ruinen, die fast schon tot war und wieder lebendig geworden ist, von bisweilen dürftiger Schönheit wie die Schneeglöckchen im Garten in der Pfaffenstrasse. Menschen, die eigentlich nichts zu tun haben mit der Kirche und den Christen und sehen, was sie tun und wie sie leben und das achten und manchmal sogar nachfragen. Das ist Neues, auch nach über zwanzig Jahren noch, seht doch hin, erkennt ihr es nicht? Ich nehme dieses Wort natürlich mit, wenn ich jetzt gehe, denn es gehört mir ein bisschen, weil es im vergangenen Jahr unser Trauspruch geworden ist. Aber dass es so schnell Wirklichkeit werden würde, haben wir auch nicht gewusst. Nun gehen wir auf das Neue zu, an einem anderen Ort, in Wittenberg, in dem es viele schöne Häuser gibt und auch noch graue. Ich nehme dieses Wort mit, damit ich dort so leben kann, wie ich es hier in Bützow konnte, das Neue sehen, gerade wenn es noch verborgen ist. Noch weiß ich nicht, ob in unserem neuen Garten, unter dem großen Baum, den es auch dort gibt, im Frühling Schneeglöckchen wachsen – aber ich bin mir fast sicher.
Seht, ich schaffe Neues, schon sprießt es, erkennt ihr es nicht? Ich nehme dieses Wort mit und es bleibt hier. Es bleibt bei unserer kleinen Gemeinde, die erfahren hat, wie das Neue sprießen kann und die das auch in Zukunft erfahren wird. Es bleibt in Bützow, wo es viele schöne Häuser gibt und noch graue und bald noch mehr schöne, sogar endlich ein Schloss, das seinen Namen verdient – und was noch wichtiger ist, wo es Menschen gibt, graue und bunte, stille und schöne und niemals nur schwarze und weiße. Es bleibt in diesem Land, das die Hoffnung so nötig hat und Menschen, die sie weitersagen, aller dürftigen Wirklichkeit zum Trotz.
Wo etwas zu Ende geht und nichts in Sicht ist, genau da liegt die Hoffnung verborgen. Grab ruhig ein bisschen danach und gib, was du geben kannst, etwas Geduld, ein bisschen Wasser und Wärme, setz es in eine Glasschale und stell sie mitten auf den Tisch: Schon sprießt es, erkennt ihr es nicht?
Amen