Sturm und Stille
Predigt zu Markus 4, 35-41 und der Kantate „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit“ (BWV 14)
Die Wellen schlugen hoch in diesen Wochen Woche. Und die stets ergiebigen Metaphern des Meeres und der christlichen Seefahrt konnten auch entfernt von der Küste zur Anwendung kommen. Die parlamentarische Demokratie als solche, unsere Staatsform, kennen wir eher als Containerschiff, langsam, aber zuverlässig. Ohne größere Aufmerksamkeit transportiert diese Demokratie durch ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter gesellschaftliche Themen in Vorschläge und Debatten und von dort weiter in Ausschüsse und Anträge, bis dann irgendwann aus den verschiedenen politischen Rohstoffen Gesetze werden.
Aber in den letzten Wochen war es anders. Da war ein großes Beben im Bundestag, ein Sturm, der sich diesmal nicht auf das berühmte Wasserglas am Rednerpult beschränken ließ. Ein Seebeben, den Meeresgrund erschütternd und Wellen erzeugend, die das Containerschiff mit dem Namen „Demokratie“ am Bug ernsthaft bedroht haben. Und diese Wellen tragen sich weiter, wie Wellen das eben so machen, bis sie den festen Grund erschüttern, auf dem wir zu stehen glaubten. Und uns an Herz und Verstand schwappen. Wo sind wir da hineingeraten?
Meer und Seefahrt sind metaphernreich und das ist schon immer äußerst verlockend gewesen. Auf die Geschichte von der Sturmstillung auf dem See Genezareth Bilder von windgepeitschten Wellen, fliegender Gischt, durchnässten Körpern, flatternden Segeln und heulendem Wind zu übertragen, das ist in der Kunstgeschichte ein beliebtes Sujet gewesen.
Aber der See Genezareth ist gar kein Meer, er ist bloß ein See. Gut möglich, dass auch die biblischen Erzähler hier ein wenig übertreiben. Oder auch nicht. Denn sie kennen die einzige Version einer Seeschlacht, die es in Israel jemals gegeben hat. Als die Römer im Jüdischen Krieg 67 nach Christus eine am See Genezareth gelegene Stadt eroberten, flohen Aufständische in Booten auf den See. Sie wurden aber von den Römern eingeholt und alle umgebracht.
Es sind sehr konkrete geschichtliche und politische Ereignisse im Hintergrund, die sich in Bilder übertragen haben. Der See wird zum Meer und die Bedrängnis wird konkret in Bildern vom Meer, ganz egal, wie weit von Küsten entfernt man sich gerade befindet oder ob man ein richtiges Meer überhaupt kennt. So wie im 124. Psalm: „Wäre der HERR nicht bei uns, wenn Menschen wider uns aufstehen, so verschlängen sie uns lebendig, wenn ihr Zorn über uns entbrennt; so ersäufte uns Wasser, Ströme gingen über unsere Seele“ (Psalm 124, 2-4a).
Die Bedrängnisse unterscheiden sich, aber eines bleibt gleich: Wenn Menschen widereinander aufstehen, sei es in den Kriegen und Konflikten aller Zeiten oder in politisch bewegten Zeiten, wie wir sie gerade erleben, dann schlägt das Wellen. Und das schwappt uns bis an die Seele, bis an Herz und Verstand. Es gibt Dinge, die einen bedrängen und denen man sich nicht entziehen kann. Die Ströme gehen uns an die Seele und wir sitzen dabei alle in einem Boot – um eine weitere maritime Metapher zu strapazieren.
Martin Luther, der in seinem Leben das Meer nie gesehen hat, aber als Experte in Sachen Bedrängnis durch andere Menschen gelten darf, hat dann aus dem 124. Psalm einen Choral gemacht: „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit / wir hätten müssen verzagen / die so ein armes Häuflein sind, / veracht‘ von so viel Menschenkind / die an uns setzen alle“. Luther versteckt sich ein bisschen in diesem Wir. Ich verstehe das gut. Denn wer erzählt schon gerne davon, wie es ist, wenn man glaubt, in seinem Leben vielleicht schon bald einen gewaltigen Schiffbruch zu erleiden und einfach unterzugehen? 1524, als der Choral entstand, hatte die Reformation mächtig Fahrt aufgenommen. Aber die Wellen schlugen hoch und der Kurs war nicht überhaupt nicht klar. Es war ungewiss, wo sie alle und vor allem Martin Luther selbst ankommen würde.
Ich höre auch aus dem kunstvoll fugierten Satz des Eingangschors immer noch seine kleine einzelne Stimme heraus und die hohen Wellen der Bedrängnis, die sie umgeben haben. Man kann auch ganz allein für sich ein armes Häuflein sein.
Wo sind wir da hineingeraten, fragen wir uns zusammen mit den Freunden von Jesus. Sie wollten doch bloß etwas ganz Normales tun und mit einem Boot über einen See fahren, von einem Ufer zum anderen, so, wie sie es schon oft gemacht haben. Und auf einmal geraten sie derart in Bedrängnis. Sie sitzen nun einmal alle im gleichen Boot. Und das zwingt sie in ein Wir, zu dem sie gar nicht gehören wollen.
Genauso zwingt mich das, was in dieser Woche Wellen geschlagen hat, in ein Wir, zu dem ich nicht gehören möchte. Der Kurs des sonst immer so beruhigend behäbigen Containerschiffs „Demokratie“ ist überhaupt nicht klar. Und es ist ungewiss, wo wir alle und damit auch ich ankommen werden. Der Sturm gerade ist das eine, der legt sich vielleicht wieder. Aber auf was für ein Ufer steuern wir eigentlich zu?
„Herr, hilf, wir verderben“ rufen sie da im Boot auf dem See. Wir sitzen doch alle wie im gleichen Boot auf einem stürmischen Meer und schreien gegen unsere Angst an. Und wir brauchen auf diesem Boot keine, die so tun, als seien sie unsere Kapitäne und hätten die einfachen Lösungen, die uns retten werden. Ich glaube überhaupt nicht mehr an Kapitäne. Die sitzen mit mir im gleichen Boot und geben ihre eigene Bedrängnis und Ratlosigkeit ums Verrecken nicht zu. Bis sie dann im schlimmsten Fall als letzte von Bord und mit untergehen.
Und vielleicht sie gar nicht heroisch, sondern ironisch gemeint, diese Musik von Kapitänen und anderen Anführern in der Arie des Soprans. Das schmetternde Horn ist womöglich nur eine Karikatur, gegen das eine zarte Frauenstimme ansingt statt eines dröhnenden Basses. Vertauschte Rollen, enttäuschte Erwartungen, auch später, wenn der Bass dann endlich dran ist und überhaupt nicht dröhnt und die Wellen nicht so gewaltig zu wogen und zu rollen anfangen, wie man es eigentlich erwarten würde. Zarte Oboen sind zu hören, des Schmetterns gar nicht mächtig.
Es ist Musik, bei der Jesus, der Meister der enttäuschten Erwartungen an seine Person, hervorragend schlafen kann. Sogar in einem Boot, über das die Wellen hereinbrechen. Und nur, weil sie ihn wecken, steht Jesus dann doch noch mal auf und tut etwas, das aus nautischer Sicht vollkommen sinnlos ist. Er gibt keine Befehle oder lässt eilige Manöver vollziehen. Es entsteht keine Hektik. Es werden keine Segel gerefft. Jesus hat nicht vor, jetzt mit großer Geste das Ruder zu ergreifen und den Kurs zu ändern. Er stellt sich hin und bedroht den Wind und das Meer. Und es wird eine große Stille.
Ich glaube nicht an Kapitäne. Ich glaube an Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und das Meer und alles, was darinnen ist. Und an Jesus, seinen Sohn, der da steht in diesem kleinen Fischerboot auf dem See, wie die Karikatur eines Kapitäns und zu mir sagt: Warum bist du so furchtsam? Bevor er den Wind und das Meer bedroht, damit sie die Angst bekommen, die ich nicht mehr haben soll. Denn das Gegenteil von Glauben ist nicht Unglauben, sondern Angst.
Und dann sitze ich mit euch allen in diesem Boot, auf dem wir gemeinsam unterwegs sind. Gerade sind stürmische Zeiten und die Wellen schlagen hoch und manchmal macht es mir Angst. Aber ich halte mich einfach fest daran, dass die Konjunktive auf dem Weg durch diese Kantate alle längst untergegangen sind. „Wär Gott nicht mit uns diese Zeit / wir hätten müssen verzagen“.
Martin Luther hätte verzagen können. Auch Johann Sebastian Bach hatte oft genug Grund dazu. Und wir hätten natürlich verzagen können, wie schon oft und bestimmt nicht nur wegen aktueller politischer Entwicklungen. Stürme und Wellen gibt es genug, in jedem Leben. Aber wir müssen nicht verzagen. Denn wir haben doch Jesus mit im Boot, der die Welt mit ihrer Angst überwunden hat. Da liegt er und schläft, umbrandet von Musik, der Kapitän unserer Herzen und unserer Seelen und unseres Verstandes. Gleich steht er auf. Und wer es hören kann, hört es heraus: Aus dem Sturm wird die Stille.