Über den Wolken

Wir seh‘n ihm noch lange nach, / seh‘n ihn die Wolken erklimmen, / bis die Lichter nach und nach / ganz im Regengrau verschwimmen. / Unsere Augen haben schon / jenen winzigen Punkt verloren… Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein….

Und über den Wolken ist Jesus, seit seinem endgültigen Abschied heute an Himmelfahrt. Und uns geht es nicht anders als seinen Freunden, die damals dastanden und zum Himmel blickten, bis sie wirklich gar nichts mehr von ihm sehen konnten. Diese reizenden mittelalterlichen Darstellungen von Jesus, in denen nur noch seine Füße aus einer Wolke hervorschauen, nicht unähnlich den Füßen, die ich hier am Altar stehend stets über meinem Kopf schweben sehe, so schwebend über den Dingen wie diese ganze Figur von Christus in dieser Kirche.

Himmelfahrt führt über die Wolken, bedeutet grenzenlose Freiheit für Jesus. Allem Irdischen wird er endgültig enthoben. Das ergibt in der Folge den Schmerz des Abschieds für die Zurückbleibenden, mit der Zeit abgemildert vielleicht in eine leise Melancholie und hoffentlich keine bodenlose Unsicherheit erzeugend.

Himmelfahrt rückt das Oben in den Mittelpunkt, erinnert an die Wolken, seien sie nun schäfchenweiß oder regengrau. Himmelfahrt erinnert an alle Arten von Abwesenheit, ist der chronische Schmerz im Nacken vom Nach-Oben-gucken, eine ziehende Anspannung und Verspannung im Verhältnis zu Gott.

Nach Himmelfahrt und von unten, vom Boden der Tatsachen aus, sieht die Sache mit Gott ganz anders aus. Unangenehm vage und wolkig werden alle Aussagen darüber, was ein Gebet vermag. Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost. (Jesus Sirach 35,21)

Als sei die Wolkendecke doch undurchdringlich. Über die Wolken schafft es jeder Billigflieger binnen Minuten, aber wenn es um Gebete geht, kann es einem vorkommen, als habe Gott sich mit einem wolkig-wattigen Schutz selbst abgepolstert gegen all, was von unten kommt. Und die Wolken undurchdringlich gegen die Gebete der Unterdrückten, der Waisen und Witwen, gegen die Klage und das Schreien und die Tränen.

Dann ist alles still, wir geh‘n / Regen durchdringt unsere Jacken / irgendjemand kocht Kaffee / in den Luftaufsichtsbaracken. / In den Pfützen schwimmt Benzin / schillernd wie ein Regenbogen / Wolken spiegeln sich darin / wir wär’n gerne mitgeflogen. Man kann sich entschlossen ergeben in die Verschlossenheit des Himmels, den Kopf wieder herunternehmen, die Kapuze darüber und dann nur noch geradeaus und nach unten sehen und nicht mal mehr nach links oder rechts.

Wir wär’n gerne mitgeflogen. Die Freunde von Jesus hätten das auch gerne getan und mussten doch unten bleiben und sich einrichten. Und fingen irgendwann an, ihre eigenen Luftaufsichtsbaracken zu bauen und sie Kirchen zu nennen. In denen sollte es mutmaßlich Auskünfte geben über das, was über den Wolken ist. Meistens ging es aber eher um die Aufsicht über alle, die dort ein und ausgingen. Und noch später ging es sehr viel ums Kaffeekochen und Kaffeetrinken und nur noch gelegentlich um die Unterdrückten und die Witwen und die Waisen. Man kann sich auch ein bisschen zu entschlossen auf dem Boden der Tatsachen einrichten, nach Himmelfahrt, in den Kirchen.

Und den Punkt, dass es um Gott geht, in diesen als Kirchen getarnten Luftaufsichtsbaracken so winzig machen, dass es kein Problem mehr ist, ihn aus den Augen zu verlieren. Aber das Gebet ist die Sprache der Liebe zu Gott, die Sprache des Vertrauens in diese Beziehung. Und wie in jeder anderen Beziehung auch, weisen Probleme in der Kommunikation auf die Probleme in der Beziehung hin. Niemand will seine oder ihre Beziehung zu Gott doch in einer Luftaufsichtsbaracke zu Ende leben, mit leiser Melancholie, zarten Konjunktiven und im Bewusstsein der Vergeblichkeit aller Wünsche, so wie in dem Lied „Über den Wolken“.

Und deswegen brauchen wir andere Klänge. Wir müssen zurück in eine Zeit, in der man sich mit der Verschlossenheit des Himmels und dem Schweigen Gottes noch nicht so abgefunden hatte, wie wir es heute tun. Erstaunlicherweise ist es eine Zeit, in der es weitaus mehr Unterdrückte, Witwen und Waisen gab und mutmaßlich viel mehr unerhörte Gebete. Aber das war für niemanden ein Grund, den Himmel für verschlossen und die Wolken für undurchdringlich zu halten.

Das heikle Thema des Gebets geht Johann Sebastian Bach in der Kantate voller Zuversicht an. „Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, so ihr den Vater etwas bitten werdet in meinem Namen, so wird er’s euch geben“. Diese Worte hat Jesus in die unklare und unsichere Situation kurz vor seinem Tod hinein gesagt. In diesen Worten sollten seine Freunde einen Halt finden. Und als verlässlichen Halt hat deswegen Johann Sebastian Bach auch die Musik komponiert. Gleich zu Beginn wählt er eine strenge, fast kontrapunktische Form für das Bibelzitat, beinahe wie eine Motette, die Verlässlichkeit und Sicherheit ausstrahlt. Damit ist der zuversichtliche Grundton der Kantate angeschlagen. Und klanggewordene Zuverlässigkeit gibt es auch später im Choral und in der Tenorarie mit ihrer vielfachen Wiederholung des „Gott hilft gewiss“.

Und doch gibt es auch den anderen Ton in der Kantate. Zu den Rosen gehören auch Dornen. Zu dem rosigen Vertrauen auf Gott gehört die stichelnde Unsicherheit Gott gegenüber. So wie in jeder Beziehung beides zusammengehört, Vertrauen und Unsicherheit. Und in keiner Beziehung ist es gut, die eigenen Wünsche, den Dank und die Bitten zu verschweigen und nicht mehr nach dem anderen zu fragen. Rogate heißt der Sonntag, zu dem die Kantate gehört. Es war die lateingeplagte Sechstklässlerin an meinem papierbedeckten Küchentisch, die irgendwo das Wort Rogate las und immerhin wusste, dass rogare „fragen“ heißt. Da kam es zu einem Moment der Erkenntnis am Küchentisch: Beten heißt eigentlich fragen.

Beten heißt: Gott immer weiter fragen. Nicht aufhören, Gott zu fragen, nach den Unterdrückten, den Waisen und Witwen in der Welt, den Klagen, dem Schreien, den Tränen. Und Gott auch fragen nach all dem Unterdrückten, Verwaisten und Verwitweten in meinem eigenen Leben und mit meinen Klagen, meinem Schreien, meinen Tränen zu Gott kommen.

Es ist falsch, Jesus bloß leise melancholisch nachzusehen und sich dann entschlossen abzuwenden von den Wolken und dem Himmel und sich mit Kaffeetrinken in Luftaufsichtsbaracken zufrieden zu geben. Nach Himmelfahrt und immer.

Das Gebet eines Demütigen dringt durch die Wolken, doch bis es dort ist, bleibt er ohne Trost. Das Schweigen Gottes bedeutet nicht die Vergeblichkeit des Gebets. Oder um es in der frommen Schlichtheit des Dichters der Kantate zu sagen: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Die Hoffnung wartet. Sie hat Geduld, auch mit Gott. Sie lässt nicht nach. Und erfährt im Schweigen, dass Dornen Rosen tragen können.

Amen

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