Weisheit, weiblich

Weisheit, weiblich

Predigt zu Sprüche 8, 22-36

Er war immer da. Und ich durfte mitkommen und bei ihm sein. Immer tat er etwas, an jedem Morgen und an jedem Abend. Aber Arbeit nannte er es nie. Es ging so: Erst melken wir sie. Dann füttern wir sie. Dann misten wir sie aus. Und zum Schluss fegen wir noch den Stall.

Ich war bei ihm und ich lernte: Das Leben hat seine Ordnung. Es ist gut und einfach. Wer gemolken werden muss, wird gemolken. Wer hungrig brüllt, wird gefüttert. Und wo Mist war, kommt frisches Stroh hin. Während wir das taten, jeden Tag, am Abend und am Morgen, wurde es Frühling und Sommer, es wurde Herbst und Winter. Im Sommer waren wir mit ihnen draußen auf den grünen Weiden, unter der Sonne. Im Winter waren wir im Stall, warm von ihrem Atem und ihren Leibern. An einem Tag lag nasses neues Leben im Stroh. Da waren sie geboren. Das war ein Schöpfungstag. Dann wurden sie groß. An einem anderen Tag wurden sie weggebracht. Und da starben sie. Das wusste ich.

Ich war als sein Liebling bei ihm. Ich war ein Kind und redete wie ein Kind und dachte wie ein Kind. Und ich dachte mir: So ist das. Das ist das Leben. Da ist es, zwischen Geboren werden und sterben, zwischen Anfang und Ende, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht.

Als ich dann erwachsen wurde, lernte ich: Es ist nicht jeder Mensch so wie ich auf einem Bauernhof aufgewachsen und durfte täglich mit seinem Vater in den Kuhstall gehen. Nicht jede und jeder hat das Leben so kennen gelernt wie ich. Aber als ich erwachsen war, da tat ich nicht ab, was kindlich war. Noch heute verstehe ich das Leben so, wie ich es damals kennen gelernt habe. Eigentlich einfach: Es hat einen Anfang und ein Ende. Es geht um das Geboren werden und um das Sterben. Das sind die großen Tage. Und dazwischen sind die kleinen Tage.

Als ich erwachsen wurde, tat ich nicht ab, was kindlich war. Und deswegen verstehe ich die Sehnsucht so vieler Menschen sehr gut, besonders in den großen Städten. Sie kommen nicht daher, wo ich herkomme, vom Land und vom Dorf. Aber viele möchten gerne dort hin, glaube ich. Und wenn das nicht geht, dann ziehen sie Tomaten und Kräuter auf dem Balkon und möchten, wenn sie überhaupt Tiere essen, wissen, wo die herkommen. Ein Stück eigenen Boden bewirtschaften im Schrebergarten oder sich gleich selbst versorgen in der Uckermark. Sie kaufen bewusst ein, saisonal und regional, weil ihnen Frühling, Sommer, Herbst und Winter wieder etwas bedeuten sollen. Natürlich kann man das alles Zeitgeist nennen oder Lifestyle und sich darüber lustig machen. Es gibt Fernsehserien darüber: „Raus aufs Land“, wo man Menschen dabei zusehen kann, wie sie an dem einfachen Dorfleben scheitern. Ich möchte ihnen manchmal zurufen: Das hätte ich euch gleich sagen können! Aber ich spüre in all dem mehr als Landlust. Ich glaube, es ist Sehnsucht. Danach, dass das Leben eine Ordnung hat. Dass es einfach und gut ist, an all den kleinen Tagen zwischen den großen.

Der HERR hat mich schon gehabt im Anfang seiner Wege, ehe er etwas schuf, von Anbeginn her. Ich bin eingesetzt von Ewigkeit her, im Anfang, ehe die Erde war.

Als die Meere noch nicht waren, ward ich geboren. Ehe denn die Berge eingesenkt waren, vor den Hügeln ward ich geboren, als er die Erde noch nicht gemacht hatte noch die Fluren darauf noch die Schollen des Erdbodens.

Da war ich als sein Liebling bei ihm; ich war seine Lust täglich und spielte vor ihm allezeit;

ich spielte auf seinem Erdkreis.

„Der HERR hat mich schon gehabt am Anfang all meiner Wege.“ Das sagt in der Bibel die Weisheit. Wir sagen immer Gott und Herr und denken an Männer dabei. Und hören heute von der Weisheit. Ich stelle sie mir vor wie ein Kind. Und wenn ich genau überlege, dann ist es ein Mädchen. Als Kind las ich in meiner Kinderbibel, wie Gott die Erde gemacht hat, den Himmel, das Meer, die Pflanzen, die Tiere, den Menschen. Ich las davon, dass alles Leben seine Ordnung hatte und einfach war und sehr gut. Das hatte ich ja eigentlich schon gewusst. Als ich erwachsen wurde, tat ich nicht ab, was kindlich war. Es gab auch gar keinen Grund dazu. Denn wie bei allen Kindern, war damals das Spielen auch meine Arbeit. Ich nannte sie nur nicht so. Aber ich bekam schon damals im Kuhstall meine Aufgaben und übernahm Verantwortung für die Tiere, die ich gerne haben wollte: Kümmere dich darum. Und sorge dafür. Denn so mache ich es auch. Und dann wird daraus dein Leben, all die kleinen Tage zwischen den beiden großen.

Das ist die Weisheit. Die Weisheit ist kein ewig sorglos und selbstvergessen spielendes Kind. Das war sie noch nie. Denn sie war ja dabei, als alles gemacht wurde. Sie hat neugierig und genau dabei zugesehen, so wie es alle klugen Kinder machen. Und deswegen weiß sie genau, wie das geht, das Leben.

Wenn die Weisheit erwachsen wird, tut sie nicht ab, was kindlich war. Sie bleibt schöpferisch. Sie bleibt kreativ. Aber sie ist nicht Tochter oder Sohn von Beruf, denen immer alles abgenommen wir. Sie übernimmt Verantwortung, kümmert sich, sorgt sich auch. Die Weisheit hat viele verschiedene Möglichkeiten, das Leben zu gestalten. In der Bibel heißt sie: Werkmeisterin. Architektin. Und ja, sie heißt auch „tüchtige Hausfrau“.

Das mit der Hausfrau als Modell der Lebensgestaltung kommt nicht überall gleich gut an. Heute, in der Landlust-Zeit ist das gar nicht mehr so fürchterlich. Kinder kriegen, kochen, backen, nähen, sogar stricken – alles wieder möglich. Allerdings nicht auf jeweils ein Geschlecht und auf ein einziges Lebensmodell festgelegt. Wir haben inzwischen gelernt: Schöpferisch leben ist viel mehr. Es ist das Spielen der Erwachsenen. Und eine große Sehnsucht in so vielen Menschen.

So hört nun auf mich, meine Söhne! Wohl denen, die meine Wege einhalten! Hört die Mahnung und werdet weise und schlagt sie nicht in den Wind!

Wohl dem Menschen, der mir gehorcht, dass er wache an meiner Tür täglich, dass er hüte die Pfosten meiner Tore! Wer mich findet, der findet das Leben und erlangt Wohlgefallen vom HERRN. Wer aber mich verfehlt, zerstört sein Leben; alle, die mich hassen, lieben den Tod. (Spr 8, 32-36)

Die Weisheit – sollte sie doch Gottes Hausfrau sein? Es hört sich beinahe so an. Sie klingt wie eine Mutter, die klare Ansagen macht. Wie passend für heute, für den Muttertag. Die Weisheit hat, glaube ich, eine Schürze um. Und sie redet Klartext. Sie nimmt kein Blatt vor dem Mund. Sie redet aber nicht nur zu Kindern, sondern auch zu Erwachsenen. Das Leben hat eine Ordnung, sagt sie. Und du hast etwas zu tun, sagt sie. Kümmere dich darum. Sorge dafür. Übernimm Verantwortung. Da ist sehr viel, das sich wiederholt, das einfach getan werden muss, jeden Morgen und jeden Abend.

Ich liebe die Weisheit für ihre klaren Ansagen. Und ich glaube, vieles im Miteinander in den Familien und den Beziehungen wäre einfacher, wenn es nicht immer nur die Mütter wären, die sich von dem angesprochen fühlen, was die Weisheit sagt. Sondern auch die Väter. Es ist wohl kein Zufall, dass die Weisheit die Söhne anspricht. Denn trotz Gleichberechtigung und Aufgabenverteilung kenne ich keine einzige andere Mutter, die sagt: Bei uns ist die Verantwortung wirklich gerecht aufgeteilt. Und wir akzeptieren gemeinsam, dass mit den Kindern eine andere Art von Verantwortung ins Leben kommt, eine tägliche, kleinteilige, mühselige. Denn wer satt war, wird ja wieder hungrig. Was sauber war, wird wieder schmutzig. Und wo etwas erledigt ist, steht gleich wieder etwas Neues da. Damit schöpferisch umzugehen, an jedem Tag aufs Neue, das ist Weisheit. Und es wäre gut, wenn jeder Tag ein Muttertag wäre, an dem wir uns kümmern und uns sorgen, nicht nur und zuerst um unsere Kinder und unsere Familien, sondern um alle, um die man sich kümmern und sorgen muss. Anderen Menschen im besten Sinne dieses Wortes „bemuttern“: Das kann man auch ohne eigene Kinder oder dann, wenn die eigenen Kinder das nicht mehr brauchen. Sich kümmern um das Miteinander, auf dem Dorf und in der Stadt, in der Gesellschaft und in der Welt.

Wer das tut, erlebt, wie die Weisheit in der Welt wirkt, die Gott so gut geschaffen hat. Er oder sie wird ein Teil der Schöpfung, fügt sich ein und füllt die vielen kleinen Tage zwischen den großen mit Sinn. Und kennt das Gefühl, das ich meistens abends hatte, wenn endlich die Küche aufgeräumt war, der Geschirrspüler lief und die Kinder im Bett waren. Dann habe ich die Küchentür hinter mir zugezogen.

Und einen Moment lang war es dann wie damals, als ich noch bei ihm war. Als im Kuhstall alles sauber und in Ordnung war und nur noch das zufriedene Kauen der Tiere zu hören und manchmal ein Schnauben. Und wir die Stalltür zuzogen und aus dem Stall zurück ins Haus gingen, unter einem hellen Frühlingshimmel oder schon unter den Sternen. Diesen Himmel sehe ich manchmal immer noch, abends an der Küchentür. Dann ist es einfach und gut, das Leben mit seiner Ordnung. Und ich bin einverstanden damit.

Amen

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