Predigt zu Röm 10,12-18 am 18. September 2016 in Rövershagen
Weite Wege für das Wort. Ziemlich genau 300 Kilometer sind es von Wittenberg nach Rövershagen. Mit dem Auto dauert das etwa drei Stunden. Ich habe einer Freundin erzählt, was ich am Wochenende vorhabe. Sie hat sich gewundert. „So weit fährst du, nur um zu predigen?“ Sie weiß zwar, wie sehr ich Mecklenburg liebe und denkt sich vielleicht, dass das so eine Art erweiterter Sonntagsausflug für mich ist. Das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich bin doch noch einmal ins Nachdenken gekommen. Heute habe ich drei Stunden gebraucht. Aber welche weiten Wege hat das Wort zurückgelegt, das ich hier und heute in der Dorfkirche in Rövershagen predige?
Ich denke an die allerersten Christen hier in Mecklenburg. Es hat lange gedauert, bis der christliche Glaube überhaupt hier angekommen ist. Dieses weite Land mit dem weiten Himmel war über Jahrhunderte eine heidnische Insel zwischen Elbe und Oder. Es brauchte einen Kreuzzug und lange Kämpfe gegen den erbitterten Widerstand der Slawen, bis hier zum ersten Mal das Wort Gottes verkündigt wurde. Durch Bischof Berno wurden die erste Klöster und Kirchen gebaut. Vor knapp 700 Jahren haben sie hier in Rövershagen die Steine für die Kirche zusammengetragen.
Vor 500 Jahren predigte dann in der Rostocker Altstadt in St. Petri der Pastor Joachim Slüter auf Plattdeutsch für die armen Leute in seinem Viertel, für „Schweine, Gesocks und alte Verrückte“, wie die damalige Oberschicht spottete. Die Ideen Martin Luthers waren aus Wittenberg hier im Norden angekommen. Das Evangelium kam zu den Leuten. Gottes Wort wurde so weitergesagt, dass es jeder verstehen konnte, auch in Rostock und Rövershagen.
Weite Wege für das Wort. Von der griechischen Stadt Korinth sind es etwa 1000 Kilometer bis nach Rom. Eine Frau hat sich auf den Weg gemacht. Sie heißt Phoebe. Wahrscheinlich reist sie mit dem Schiff über das Mittelmeer. Sie hat den Brief dabei, der heute Römerbrief heißt. Paulus hat an die Gemeinde in Rom geschrieben. Viele Jahre war er unermüdlich umhergereist und hat die ersten christlichen Gemeinden gegründet. Nach Rom kommt er aber nicht selbst, sondern nur seine Worte. Paulus schreibt:
Es ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen;
es ist über alle derselbe Herr, reich für alle, die ihn anrufen.
Denn »wer den Namen des Herrn anrufen wird, soll gerettet werden« (Joel 3,5).
Wie sollen sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben?
Wie sollen sie aber an den glauben, von dem sie nichts gehört haben?
Wie sollen sie aber hören ohne Prediger?
Wie sollen sie aber predigen, wenn sie nicht gesandt werden? Wie denn geschrieben steht (Jesaja 52,7):
»Wie lieblich sind die Füße der Freudenboten, die das Gute verkündigen!«
Rom und Rostock und Rövershagen – ich kann alle diese Orte in einem Atemzug nennen. Denn es ist hier kein Unterschied zwischen Juden, Griechen, Slawen oder Mecklenburgern. Es ist das gleiche Wort. Es ist aus Korinth nach Rom gereist. Bischof Berno hat es nach Mecklenburg gebracht. Pastor Slüter hat es in Rostock gepredigt. Und ich predige es heute auf dieser Kanzel. Kein Weg ist dem Wort zu weit oder zu mühsam. Es kommt zu Fuß und mit einem Schiff übers Mittelmeer und über die Autobahn. Bis es unter uns ist und wir es hören können.
Überall auf der Welt wird Gottes Wort weitergesagt, das reiche, gute Wort, das alle Menschen satt macht, die es hören und darauf vertrauen. Dieses Wort ist so reich, dass es sich lohnt, noch die kleinsten Krümel davon einzeln aufzupicken mit der feuchten Fingerspitze, wie am Frühstücktisch die Brötchenkrümel. Es lohnt sich sogar, sich nach dem zu bücken, was schon auf dem Boden liegt. So macht es ja die Frau, die zu Jesus kommt und so schroff zurückgewiesen wird. Sie hört nicht auf zu bitten und zu betteln um bloß einen Brosamen, einen Krümel davon. Damit die gute Nachricht bei ihr ankommt. Dass Jesus Gottes Wort zu Menschen aus allen Völkern bringt. Paulus geht den Weg des Wortes noch einmal ganz zurück, bis er bei sich selbst ankommt. Er ist der erste Apostel, der erste Reisende, mit dem sich das Wort auf den Weg gemacht hat. Und er geht sogar noch weiter zurück, bis zu den Propheten des Alten Testaments, zu den Freudenboten, die das Gute verkündigen.
Weite Wege für das Wort. In Rom und Rostock und Rövershagen wird es gepredigt. Menschen nehmen es sich zu Herzen, sagen es weiter, möchten, dass es ankommt. Paulus, Berno, Slüter, ich selbst, die, die vor mir da waren und die, die nach mir da sein werden. Die Prediger und Predigerinnen sagen mit ihren Worten das Wort weiter. Das ist ihr Beruf. Aber wirken muss es in den Hörern, die es in ihr Herz lassen, die glauben und ihren Glau- ben leben. Sie tun das ja oft nicht mit Worten, sondern auf mecklenburgische Art, eher im Stillen.
Ich habe in meiner Zeit in Mecklenburg so viel von der Liebe und Treue gesehen, mit der sich Menschen zur Kirche halten, oft über Generationen. Ich kannte das aus meiner Heimat nicht, wo es selbstverständlich war, dass man zur Kirche gehört. Und hier sah ich: Das eine Haus im Dorf, wo man jederzeit den Kirchenschlüssel bekommen kann. Die bunten Sträuße aus dem Garten für den Altar und die liebevoll geharkten Wege auf dem Friedhof um die Kirche. Und die wenigen, die sich zum Gottesdienst versammeln, wenn es kein so besonderer Gottesdienst wie heute ist. Die sich immer schon zur Kirche gehalten haben, auch als es die Kirche schwer hatte. Gegen alle äußerliche Dürftigkeit haben sie unbeirrt und auch mit ein bisschen landestypischer Dickschädeligkeit daran festgehalten, dass sich das lohnt. Weil Gott alle Menschen reich macht, die ihn anrufen.
Die Hörerinnen und Hörer des Wortes sind wie Glieder einer endlosen Kette über Raum und Zeit, seit 2000 Jahren, über Tausende von Kilometern. Wenn das Wort nicht bei euch ankommt, wenn ihr es nicht aufnehmt in eure Herzen, dann hat es keinen Platz mehr in der Welt. Ohne euch reißt die Kette ab.
Paulus schreibt:
Aber nicht alle sind dem Evangelium gehorsam.
Denn Jesaja spricht (Jesaja 53,1): »Herr, wer glaubt unserm Predigen?«
So kommt der Glaube aus der Predigt, das Predigen aber durch das Wort Christi.
Ich frage aber: Haben sie es nicht gehört?
Doch, es ist ja »in alle Lande ausgegangen ihr Schall
und ihr Wort bis an die Enden der Welt« (Psalm 19,5).
Weite Wege für das Wort. Auch Paulus kennt die Angst, dass das Wort nicht ankommt bei den Menschen. Einen großen Teil seines Briefes widmet er der Frage, wie es sein kann, dass die Juden den Glauben an Jesus Christus nicht annehmen. Aber eigentlich ist hier kein Unterschied zwischen Juden und Griechen. Das weiß Paulus genau. Ich würde noch hinzufügen: Es ist auch kein Unterschied zwischen Juden und Griechen und Slawen und Mecklenburgern. Und es ist auch kein Unterschied zwischen Korinth, Rom, Rostock oder Rövershagen. Denn das gehört auch zu den Erfahrungen, die ich gemacht habe, als ich nach Mecklenburg kam: Wie kann es sein, dass den Menschen der Glaube so abhanden- gekommen ist in dem Land zwischen Elbe und Oder? Ist das hier jetzt doch wieder eine heidnische Insel geworden, so wie vor 800 Jahren, als Bischof Berno nach Schwerin kam? Als ich dann nach Wittenberg gekommen bin, dachte ich: Die Kirche in Ostdeutschland, das kennst du ja schon. Das schreckt dich nicht. Aber dann hat es mich doch erschreckt zu sehen, dass es in Wittenberg noch viel schlechter um die Kirche bestellt ist als hier. Im Heimatland der Reformation können noch weniger Menschen etwas mit dem Glaubenanfangen. Sicher, in der Schlosskirche und Stadtkirche sind die Gottesdienste gut besucht. Aber wenn man nur die Wittenberger mal aufstehen ließe, würde es an manchem Sonntag ziemlich schlecht aussehen.
„Wer glaubt unserm Predigen?“ Seit ich mich hauptberuflich mit dem Thema „Predigt“ beschäftige, ist diese Frage mein tägliches Brot. Ich begleite viele Predigerinnen und Prediger, die angefangen haben zu zweifeln, ob sie mit ihren Predigten heutzutage überhaupt noch Menschen erreichen können. Ob sich die Mühe und Arbeit lohnt. Und ob die Kette nicht doch abreißt, vielleicht schon bald?
Ich kann viele von ihnen trösten, wenn ich ihnen weitererzähle, was ich gesehen habe und jeden Tag sehe in dem Land zwischen Elbe und Oder, in Rostock und Rövershagen und Wittenberg. Ich sehe den Glauben an Gottes Wort und Liebe zur Kirche, trotz allem und trotz aller äußeren Dürftigkeit. Ein Krümel Glauben, wie vom großen Tisch gefallen. Er ist genug, erreicht. Wie für die Frau, die Jesus begegnet.
Und ich glaube, dass Gottes Wege mit seinen Menschen unerforschlich sind. Sie sind doch schon unerforschlich für die, die an ihn glauben. Und noch mehr mit denen, die nicht an ihn glauben. Paulus erinnert sich und uns daran: „Gott sagt: Ich ließ mich finden von de- nen, die mich nicht suchten, und erschien denen, die nicht nach mir fragten.“ (Röm 10, 20)
Weite Wege für das Wort. Der weiteste Weg, den das Wort zurücklegt, ist nicht der von Korinth oder von Wittenberg nach Rövershagen. Der weiteste Weg ist der Weg in die Herzen der Menschen, die nur ein paar Meter entfernt von mir in den Bänken sitzen. Der Weg in eure Herzen. Das weiß ich. Und ich glaube daran, dass es so ist, wie Paulus schreibt:
Das Wort ist dir nahe,
in deinem Munde und in deinem Herzen.
Dies ist das Wort vom Glauben, das wir predigen. (Röm 10,8)
Amen.