Wer weiß, wie nahe mir mein Anfang?

Im Jahr 1726 kam der Herbst mitten im Sommer. Jedenfalls für die Familie Bach, für Anna-Magdalena und Johann Sebastian und die drei Kinder Gottfried Heinrich, Christian Gottlieb und kleine Elisabeth Juliana. Anfang Juli 1726 trug die Familie Christiana Sophia Henrietta zu Grabe. Die erste gemeinsame Tochter der Eheleute Bach war nur drei Jahre alt geworden. Ein Kindersarg, ein sehr kleiner Trauerzug durch die Stadt. Die lebenden Kinder konnten gerade erst oder noch gar nicht laufen, wahrscheinlich waren sie gar nicht dabei bei der kleinen, stillen Beisetzung. Der Vater kannte das schon, den Schmerz, ein Kind zu verlieren. Aber niemand von uns wird glauben, dass das ihm diesen Weg in irgendeiner Weise leichter gemacht hätte. Für die Mutter war es das erste Mal. Und es sollte nicht das letzte Mal bleiben.

„Christiana Sophia Henrietta Bach, 1723-1726“: Solche Geburts- und Sterbedaten, die liest man dann später in den Biographien. Und meistens liest man schnell über sie hinweg. Es ist auch besser so. Denn hinter ihnen türmt es sich auf, der Schmerz, das Erschrecken. Und die Angst, es könnte einem auch einmal so etwas widerfahren.

„Als Jesus aber nahe an das Stadttor kam, siehe, da trug man einen Toten heraus, der der einzige Sohn seiner Mutter war, und sie war eine Witwe.“ Hinter diesen kurzen Sätzen türmt es sich, der Schmerz, das Erschrecken, die Angst. Es war der einzige Sohn. Seine Mutter ist eine Witwe. Sie geht allein hinter dem Sarg. Und sie ist aller Zukunft beraubt. Ob Johann Sebastian Bach beim Lesen an seinen eigenen Trauerzug gedacht hat, an das kleine Grab auf dem Friedhof in Leipzig, auf dem sich die Erde noch nicht einmal gesenkt hatte?

Das Evangelium des 16. Sonntags nach Trinitatis war sein Evangelium. Der Sohn der Witwe von Nain. Die Tochter des Kantors von Leipzig. Eine Geschichte, in der ein Kind vor seinen Eltern stirbt und alles für immer zu Ende ist. Bis Jesus kommt und den Trauerzug stoppt und macht, dass das Ende ein Ende hat. Johann Sebastian Bach hat so viele Kinder verloren, in seinen beiden Ehen. Und ich glaube, er musste sich auch erst herankomponieren an die Vorstellung, dass das Ende nicht das Ende ist.

Wie schreibt man Musik, geeignet, um einen Trauerzug zu stoppen kurz vor dem Grab? Man muss es langsam angehen. Und deswegen beginnt diese Kantate mit dem, was wir alle wissen und was wir alle verdrängen. Denn auf die Frage Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? gibt es nur eine Antwort: Niemand. Als wollte er sich zu Beginn selbst etwas beruhigen, unterlegt Johann Sebastian Bach deswegen diese Frage mit einer Melodie, die so voller Trost ist und bekannt und geliebt bis heute: Wer nur den lieben Gott lässt walten.

Und damit klingt die Aufgabe an, die er selbst und die wir alle zu bewältigen haben. Uns etwas zu beruhigen. Das uns oft so unverständliche Walten Gottes in und mit unserem Leben zu akzeptieren. Wir sind nicht so gut darin. Wir lassen nicht gern andere walten. Wir hätten das alles gerne selbst in der Hand. Und haben es einfach nicht. Und dann versuchen wir, uns innerlich einen Sicherheitsabstand zu verschaffen, zu der Zahl, die irgendwann einmal nach unserem Geburtsjahr hinter dem Bindestrich ergänzt werden wird. Aber jede und jeder von uns wird es schon erfahren haben, wie es einmal Herbst geworden ist mitten im Sommer oder sogar schon im Frühling. Und kennt auch den Schmerz und das Erschrecken darüber und die Angst, die danach eine ganze Weile bei einem bleibt.

Hin geht die Zeit, her kommt der Tod / und endlich kommt es doch so weit, dass sie zusammentreffen werden. Einordnend und auch ein bisschen distanzierend werden solche Zeilen gerne als „sehnsüchtige Todeserwartung“ beschrieben, die typisch für die barocke Dichtung und den Pietismus sei. Ich halte solche Zeilen überhaupt nicht für barock, sondern im Gegenteil für in höchstem Maße nüchtern und realistisch. Eine Einsicht aus dieser nüchternen Einsicht singt uns der Tenor im ersten Rezitativ vor: Lebe, als wäre jeder Tag dein letzter. Nennen wir es, wie wir wollen, memento mori oder carpe diem, wenn es unbedingt Latein sein muss. Oder ein bisschen postkartentauglicher: Lebe, wie du, wenn du stirbst / wünschen wirst, gelebt zu haben (Ch. Gellert). Denn es ist viel sicherer, das Leben jetzt und hier und genau auf dem Bindestrich zu leben, als auf die mutmaßliche Entfernung der einen Zahl von der anderen seine Hoffnung zu setzen. Und es ist ganz falsch, Dinge, die uns wichtig sind, in diesen für uns gar nicht definierbaren Zeitraum verschieben zu wollen. Hin geht die Zeit / her kommt der Tod.

Ein durchaus geeigneter Versuch also, mit der Frage umzugehen: Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Aber was ist, wenn die Zeit für den Bindestrich so schrecklich kurz ist? 1723-1726, das sind drei Jahre. Da gibt es gar keine Zeit, die die erste Tochter der Eheleute Anna Magdalena und Johann Sebastian Bach sorgfältig hätte leben können. Was kann denn diese Trauer stoppen, den Schmerz, das Erschrecken, die Angst?

Johann Sebastian Bach hat an den anderen Trauerzug in der kleinen Stadt Nain in Galiläa gedacht. Und an Jesus. Der legt seine Hand auf diesen Sarg und ruft den toten Jungen und gibt ihn seiner Mutter zurück. Schon beim Lesen treibt es mir die Tränen in die Augen, wenn ich mir das vorstelle. Wie das gewesen sein muss: Als das Ende nicht mehr das Ende war. Als es wieder einen Anfang gab. Johann Sebastian Bach komponiert weiter, mit Tränen in den Augen, als er an seine Tochter denkt, die ihm keiner zurückgegeben hat. Er merkt selbst, dass er mit ein bisschen memento mori hier nicht weiterkommt. Dafür braucht es mehr.

Und so kommen wir zu der Stelle in der Kantate, in der es nicht unwahrscheinlich ist, dass Bach selbst sich an die Orgel oder das Cembalo gesetzt hat. So virtuos ist das obligate Tasteninstrument in der Altarie, dass nur Leipziger Wundermusiker überhaupt damit zurechtkommen können. Johann Sebastian Bach spielt das Lied gegen den Tod. Trotzig und ironisch spielt er gegen ihn an.

Willkommen! will ich sagen. Nicht gerade das, was ich sagen würde, wenn der Tod an mein Bett tritt. Und wie, um sich selbst Mut zu machen, kommt da von Johann Sebastian Bach auf einmal ein kleines musikalisches Motiv. Es klingt kein bisschen herbstlich und vergänglich, sondern im Gegenteil sehr frühlingshaft und lebendig. Willkommen! will ich sagen. Komm doch, Tod und sei überrascht und hör dir mal an, wie das klingt. Hier gibt es keine Jammer-Session. Hier gibt es eine Jam-Session auf den Tasten gegen den Schmerz, das Erschrecken, die Angst, frühlingshafte, lebendige Musik, die sagt:

Trauerzug und Sarg und Grab und Gruft und ein Stein mit einem Bindestrich zwischen zwei Zahlen, das alles ist nicht das letzte, was es über uns zu sagen gibt. Denn irgendwann kommt Jesus und legt die Hand auf unseren Sarg und ruft uns heraus. Und dann kommt der Anfang nach dem Ende.

Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Niemand von uns weiß das. Wir komponieren uns doch alle an diese Frage heran. Das mit dem memento mori ist auf jeden Fall eine gute Sache. Den Bindestrich mit Leben verbringen und nicht mit Warten. Und mit den Erfahrungen des Lebens kann man sich vielleicht auch an das Ende herankomponieren, nüchtern und realistisch. Denn im Leben kommt nach jedem Ende, egal, wie schmerzlich es auch sein mag, wieder ein Anfang. Es geht immer weiter. Einen Trost gibt es, bei allen Abschieden und Trennungen, im Schmerz und im Erschrecken darüber und sogar für die Trauernde: Ich kann etwas hinter mir lassen. Ich muss mich nicht mehr darum kümmern.

Es gibt Weltgetümmel und auch Getümmel in meinem Leben, dass mich sehr müde macht. Dann würde ich mir manchmal gerne die Decke über den Kopf ziehen und mir selbst ein Gutenachtlied singen oder vom Bass vorsingen lassen. Und da liegen, völlig unbesorgt darüber, dass ich nicht wieder geweckt werden könnte. So, wie ich eigentlich normalerweise auch schlafen gehe. In meinen mutigen Momenten kann ich mir den Grab und Gruft und sogar den Tod so vorstellen. Dann wird er mir zu Schlafes Bruder.

Wer weiß, wie nahe mir mein Ende? Ich komponiere mich an die Frage heran und Johann Sebastian Bach hat mir dabei geholfen. Und jetzt verstehe ich: Die Frage ist ganz falsch. Sie muss ganz anders heißen: Wer weiß, wie nahe mir mein Anfang?

Amen

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