Widerstand und Ergebung

„Widerstand und Ergebung“ hieß das Buch. Auf dem Cover, leicht abstrahiert, Gitterstäbe und etwas, das wohl eine Schreibfeder sein sollte. „Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft“ war der Untertitel. Und da ich als Jugendliche sehr empfänglich war für Bücher zum Thema „Drittes Reich“ nahm ich an, dass dieses Buch mir dann wohl auch gefallen würde. So etwas ähnliches wie das „Tagebuch der Anne Frank“ vielleicht.
In den ausgeprägt christlichen Kreisen, in denen ich mich als Jugendliche bewegte, war der Name Dietrich Bonhoeffer jedenfalls einer, den man kennen musste. So wie in anderen, spannenderen Kreisen bestimmte Bands. Dieses Buch würde mir sicher helfen, endlich zu verstehen, warum Dietrich Bonhoeffer ins Gefängnis gekommen und später – so viel wusste ich schon – ganz knapp vor dem Ende des Dritten Reichs noch hingerichtet wurde.
Ein Lied hatte er wohl auch geschrieben. Das sang ich zum ersten Mal auf einer Silvesterfreizeit. Das Lied mochte ich lieber als das Buch, das ich nach kurzer Zeit dann doch wieder weglegte. Wenig über die Bedingungen der Haft und die bösen Nazis, dafür seitenlanges Nachdenken über theologische Begriffe.
Und außerdem vermittelte mir das Buch das unangenehme Gefühl, dass es meinen jugendlichen Glauben noch erheblich an Ernsthaftigkeit fehlte. Denn es war alles nett mit Jugendkreis und Silvesterfreizeit. Aber wegen meines Glaubens ins Gefängnis kommen oder gar sterben zu müssen, das wollte ich natürlich nicht. Das schien aber die Messlatte zu sein. Und in mir war Widerstand gegen diese Art von Ergebung.

Viele Jahre blieb Dietrich Bonhoeffer so etwas wie ein Heiliger für mich. Obwohl es so etwas in der evangelischen Kirche ja gar nicht geben sollte. Ein Heiliger, um seines Glaubens willen gestorben, ein Märtyrer und damit himmelweit von gewöhnlich Glaubenden entfernt. Glauben in einer ganz anderen Liga.
Erst ein anderes Buch hat ihn mir wieder auf die Erde geholt. Darauf ist er selbst zu sehen und ein junges Mädchen. Sie sitzt auf einer Terrasse im Sonnenschein und liest einen Brief. Es ist Maria von Wedemeyer. Mit ihr hat sich Dietrich Bonhoeffer verlobt, kurz bevor er ins Gefängnis kam. Sie war da erst 18, er schon Ende Dreißig. Ihre Liebe konnte sich nur in Briefen ereignen.
Als ich ihren Briefwechsel las, da dachte ich zum ersten Mal: Da schreibt kein Heiliger. Da schreibt ein Mensch, in dem mindestens so viel Widerstand wie Ergebung ist. Einer, der liebt, einer, der sich sehnt. Eine andere Seite des gleichen Menschen. Die Briefe mit dem seitenlangen Nachdenken über theologische Begriffe gingen an seinen Freund. Und ganz andere Briefe gingen an Maria.
Einmal schreibt er ihr: „Du schreibst glücklicherweise keine Bücher, sondern tust, weißt, erfährst, erfüllst mit dem wirklichen Leben das, wovon ich nur geträumt habe…das ist es, was ich brauche, was ich in dir gefunden habe, was ich liebe – das Ganze, Ungeteilte.“

Und mitten in diesen Briefen fand ich ein Gedicht, das ich schon als Lied von der Silvesterfreizeit kannte. Und außerdem mit einem Sonnenaufgang dahinter als Poster, als Postkarte, auf Kerzen, Kaffeebechern und Kalendern aus der christlichen Buchhandlung: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, / erwarten wir getrost, was kommen mag. / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag“
Dietrich Bonhoeffer war seit Anfang Oktober 1944 im Kellergefängnis des Reichssicherheitshauptamtes in der Prinz-Albrecht-Straße inhaftiert. Drei Briefe durfte er von dort noch schreiben. „Es sind nun fast 2 Jahre, das wir aufeinander warten, liebste Maria. Werde nicht mutlos! Hier noch ein paar Verse, die mir in den letzten Abenden einfielen. Sie sind der Weihnachtsgruß für Dich und die Eltern und Geschwister“ (Brautbriefe, 209). Das schreibt er an Maria am 19. Dezember 1944. Ihm ist klar, dass ihn die Hinrichtung erwartet, wenn der Krieg jetzt nicht sehr schnell zu Ende gehen sollte. „Von guten Mächten treu und still umgeben“ fühlt er sich dennoch, auch in seiner Zelle im Keller, ohne Besuche und Briefe.

Als ich verstanden habe, unter welchen Umständen dieses Gedicht entstanden ist, ha-be ich mich fremdgeschämt. Für alles, was aus „Von guten Mächten“ geworden ist, was Christen, sicher mit den besten Absichten, daraus gemacht haben. Denn statt Postkarten mit Sonnenaufgängen, Kerzen und Kaffeebechern steht in Bonhoeffers Zelle ein schwerer Kelch, gefüllt bis zum Rand mit bitterem Leid. Er geht dem Tod entgegen und er weiß es. Am 9. April 1945 wird Dietrich Bonhoeffer im Konzentra-tionslager Flossenbürg aufgehängt. Ein paar Tage dreht sich das stockende Räder-werk des Dritten Reichs danach noch weiter, bis es endgültig zum Stehen kommt. Zu spät für Dietrich. Zu spät für Maria. Im Februar 1945 hat sie noch versucht, Dietrich in Flossenbürg zu finden, wo er noch gar nicht angekommen war. Von seinem Tod erfährt sie erst im Sommer 1945.

Ein Gedicht, das man, wenn überhaupt, nur mit einer getragenen Melodie unterlegen kann. Wir haben die ersten Strophen mit dieser Melodie gesungen. Sie stammt aus der Zeit, in der die Jungen Gemeinden im Osten Deutschlands vom DDR-Regime drangsaliert wurden. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“, das beteten sie damals zum Abschluss ihrer Treffen. Und bald sangen sie es auch. Die Worte Dietrich Bonhoeffers aus dem Kellergefängnis haben sie getröstet und gestärkt.
Die christlichen Jugendlichen in der DDR glaubten in einer ganz anderen Liga als ich. Das habe ich in meinen Jahren als Pfarrerin in Ostdeutschland verstanden. Eine Freundin erzählt mir, wie sie in regelmäßigen Abständen vor der ganzen Klasse auf-stehen musste. „Ihr könnt jetzt alle mal lachen. Gabriele glaubt an Gott“ hat die Lehrerin gesagt. Und das Abitur durfte sie auch als Klassenbeste nicht machen. „Gott ist bei mir am Abend und am Morgen“, dachte Gabriele vielleicht an einem solchen Morgen in der Schule.
Ich dagegen bekam sogar in der Schule Anerkennung für mein Engagement in der Kirchengemeinde. Und Bonhoeffers Gedicht kannte ich nur mit der anderen, viel eingängigeren Melodie. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“ war in dieser Version nicht die letzte Strophe, sondern der häufig wiederholte Refrain. Das passte, denn in meinem Leben und Glauben war ja gar kein Widerstand nötig. Und deswegen auch keine Ergebung.

Heute, am Übergang vom alten zum neuen Jahr, halte ich einen Moment an, wie es wohl jeder tut an diesem Tag. Ich sehe auf das vergangene Jahr, das ja auch ein Jahr meines Lebens ist, auf mein Leben als Ganzes, auf das, was war. Und auf das was kommt.
Ich sehe gnädiger auf meinen jugendlichen Glauben von damals. Jetzt bin ich in der viel zitierten Mitte des Lebens angekommen und habe längst meine eigenen Erfahrungen damit gemacht, wo Widerstand von mir verlangt wird und wo Ergebung. Und dass man beides nicht voneinander trennen kann. Das gilt für das große Ganze und noch mehr für das eigene kleine Leben und was es an Widerständen und Ergebungen von mir verlangt.
Je älter ich werde, desto mehr glaube ich: „Zur letzten Strophe gehören die sechs Strophen zuvor. Wir können und werden unsere Zukunft kaum so erfahren wie Dietrich Bonhoeffer. Gott geht mit jedem von uns seinen besonderen Weg. Aber wir sollen wissen und ernst nehmen, dass die letzte Strophe auch die letzte bleibt, Ziel, Resultat eines Lebens in der Nachfolge sein will und nicht selbstverständliche Voraussetzung.“ (Albrecht Schönherr). Manche Strophen gehören einfach ans Ende, ans Ende eines Jahres, ans Ende eines Lebens.

„Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“ (Hebr 13, 8f.)
Das ist der Predigttext für heute, zu dem ich jetzt gar nichts gesagt habe, obwohl ich gleich aufhöre.
Es ist ja auch schon alles gesagt, mit dem Gedicht, mit dem Leben von Dietrich und Maria und von Gabriele. Ich spüre es: Der Glaube beginnt nicht mit einem festen Herz. Er macht ein festes Herz, durch das ganze Leben hindurch. So dass du das singen kannst, als Refrain deines Lebens und als letzte Strophe, ganz am Ende.

„Von guten Mächten wunderbar geborgen / erwarten wir getrost, was kommen mag / Gott ist bei uns am Abend und am Morgen / und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Amen.

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