Wie Rauch und Feuer

Ein Mann allein in der Wüste, über ihm Sonne und Himmel, um ihn herum das ewig meckernde und blökende Kleinvieh, auf der Suche nach Nahrung in dürftiger Umgebung, auf der Suche nach Wasser in der Hitze. Eine Herde, angewiesen auf ihn. Er muss sie leiten, schützen und bewahren. Dieses unwegsame Gelände hat es an sich, dass sich Gefahren nicht auf den ersten Blick erfassen lassen. Da sind Spalten im Felsgeröll, Wege, die im Nichts enden und zu mühsamen Umwegen zwingen. Auch Pflanzen, die sich durch Dornen und Ungenießbarkeit vor dem Verzehr retten. Und die giftigen Schlangen, schwer auszumachen im Sand und Staub.

Mit dem Gemecker der Ziegen in den Ohren und dem Geruch von Schafmist in der Nase ist Mose in der Wüste unterwegs. Die weite, geröllige Ebene hat er vor sich und genügend Zeit, darüber nachzudenken, was jetzt aus ihm werden soll. Hinter Mose liegt seine Flucht aus Ägypten. Dort war er aufgewachsen mit einer falschen Identität. Er führte ein Doppelleben in der ständigen Angst, dass seine Zugehörigkeit zum Volk der Israeliten doch irgendwann entdeckt werden würde. Und dann war da der Mord, den er, der Fremde, an einem Einheimischen begangen hatte. Danach war ihm nichts anderes übriggeblieben, als zu fliehen. Nur, um in einem anderen Land wieder der Fremde zu sein.

Mit seiner Vergangenheit ist Mose in der Wüste unterwegs. Angekommen ist er damit auch in der Vergangenheit seines Volkes. Nichts anderes als Ziegengemecker und ein Hauch von Schafmist weht aus dieser Vergangenheit herüber. Wie er jetzt gerade, so waren sie Generationen lang unterwegs: Abraham und Sarah, Isaak und Rebekka, Jakob, Lea und Rahel, mit ihren Kindern und Knechten und Mägden und Ziegen und Schafen. Um am Ende doch nicht im Gelobten Land, sondern in der Fremde anzukommen, in Ägypten. Eine Fremde, die ihnen nicht zu einer Heimat geworden ist, sondern sich in eine Sklaverei verwandelt hat.

Mose wird aus seinen Gedanken gerissen. Die Herde der Ziegen und Schafe will gerade anfangen, sich zu teilen. Und das ist etwas, dass er, der Hirte, unbedingt verhindern muss. Denn wenn das passiert, dann kriegt er sie niemals wieder eingefangen. Dann läuft er dem einen Teil hilflos hinterher, während der andere Teil vielleicht gerade ins Verderben rennt. Erst riecht er es, dann sieht er auch, was der Grund für die Aufregung in der Herde ist. Weiter vorne brennen die Büsche, dieses kaum kniehohe, dornige Gestrüpp. Auch wenn es dort nicht brennt, ziehen die Ziegen und Schafe daran vorbei. In den Dornen ist keine Nahrung zu finden. Höchstens verfangen kann man sich darin oder sich das weiche Maul zerkratzen. Wie eine Säule steigt der Rauch von den Büschen in den Himmel. Er wird zu einem nicht zu übersehenden Zeichen der Gefahr. Und die Herde wird unruhig.

Ich sehe Mose in der Wüste auf den Rauch aus den Büschen blicken. Ich spüre das klopfende Herz des Hirten und seine Angst, nicht mehr hinterherzukommen, wenn die Herde jetzt auseinanderläuft. Er wollte gerade ein bisschen über seine Zukunft nachdenken. Und zum Glück weiß er noch nicht, dass ihn seine Zukunft vor noch viel größere Aufgaben stellen wird. Er wird wieder in der Wüste unterwegs sein, aber mit vielen Männern, Frauen und Kindern zusätzlich zu den Ziegen und Schafen. Es wird sich aber eigentlich nicht sehr anders anfühlen. Auch in der Menschenherde wird ein ständiges Gemecker und Geblöke sein. Sie haben Hunger, sie haben Durst, ihnen tun die Füße weh und sie wollen ständig von ihm wissen, wann sie endlich da sein werden. Es wird Umwege und Gefahren geben, Hitze, Staub und giftige Schlangen. Aber auch süßes Brot vom Himmel und frisches Wasser aus dem Felsen und Rettung vor den Schlangen. Und etwas wie eine Säule von Rauch und Feuer wird vor ihnen hergehen und ihnen den Weg weisen.

Mose, der Hirte, der Anführer, weiß nicht, was auf ihn zukommt, aber ihm klopft jetzt schon das Herz. Er spürt die Last der Verantwortung für die Herde. Er unterscheidet sich darin nicht von den Menschen aus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, die es mit der Herde zu tun bekommen, mit dem Volk, mit der Bevölkerung. Es ist eine schwere Aufgabe, Verantwortung zu tragen. Denn die Menschen rennen so leicht auseinander. Sie gehen dabei in die Irre, wo nur noch Wüste und Verderben ist. In der vergangenen Woche habe ich gespürt, wie schwer das auf den Menschen liegt, auf uns allen, aber besonders auf denen, die wir zu unseren Anführerinnen und Anführern, zu unserer Regierung gemacht haben.

Wir haben uns am Montag an den grauenhaften Irrweg der deutschen Geschichte erinnert, der am Tor und an der Rampe des Konzentrationslagers Auschwitz geendet hat. Vor 80 Jahren wurde dort die letzten Überlebenden befreit. Einige wenige können noch von dem erzählen, was damals geschehen ist. Eine Wüste, in der keine Menschlichkeit mehr zu finden war. Eine Schuld, die über Generationen reicht.

Und in dieser gleichen Woche am Mittwoch, unmittelbar nach der Gedenkstunde im Bundestag zum Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus und der Rede eines Überlebenden, kam es zur Abstimmung über den Antrag der CDU-Fraktion zur Verschärfung der Migrationspolitik. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen von CDU, FDP und AfD angenommen. Die Mitglieder der AfD haben den Holocaust schon vor Jahren als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnet und das Holocaust-Mahnmal in Berlin als „Denkmal der Schande“. Als demokratische Partei mit dieser in Teilen gesichert rechtsextremen Partei zusammenzuarbeiten, das war bisher nicht vorstellbar. Das war die sogenannte „Brandmauer“. Und es fühlt sich an, als wäre diese Brandmauer am Mittwoch in sich zusammengefallen. Als steige eine Säule aus Rauch und Staub aus ihren Trümmern. Ein nicht zu übersehendes Zeichen der Gefahr.

„Ich will hingehen und diese wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt“ sagt Mose in der Wüste zu sich selbst. Er geht auf das zu, was er eigentlich nur als Gefahr kennt, was er eigentlich weiträumig umgehen würde. Da sind Rauch und verzehrendes Feuer. Und darin eine Stimme, die ihn mit Namen anspricht: „Mose, Mose!“

Es zieht ihm die Schuhe aus, hier so angesprochen zu werden in der Wüste, wo er doch immer hofft, dass ihn keiner erkennt, wegen seiner Vergangenheit und weil er ja ein Fremder ist, bloß geduldet in diesem Land.

Aus dem brennenden Busch spricht die Stimme weiter. Sie stellt sich ihm vor. Sie gehört dem Gott seiner ferneren Vergangenheit, dem Gott der Generationen vor ihm, dem Gott Abrahams und Sarahs, Isaaks und Rebekkas, Jakobs und Leas und Rahels. Und die Stimme sagt ihm auch, was auf ihn zukommt in der Zukunft. Ein Hirte und Anführer soll er bleiben, aber das Volk Israel aus der Sklaverei in Ägypten führen. Eigentlich bleibt alles gleich, die Wüste, der Weg und auch das Gemecker und Geblöke. Nur diesmal mit Menschen.

„Wer bin ich, dass ich zum Pharao gehe und führe die Israeliten aus Ägypten?“ fragt Mose Gott. Das Merkmal echter Verantwortung ist wahrscheinlich, dass sich niemand darum reißt, sie zu übernehmen. Wer Lust hat, Anführer zu sein, wem die Macht das Wichtigste ist, bei dem sieht es meistens mit der echten Verantwortung schlecht aus. Und die von solchen Anführern geleiteten Menschenherden rennen früher oder später in ihr Verderben. Das wäre aus der Geschichte der Generationen vor uns zu lernen – wenn doch irgendjemand daraus lernen würde. Und die Zeichen der Gefahr in der Gegenwart erkennen.

Ein Mann allein in der Wüste. Er bekommt hier an dem brennenden Busch eine neue Aufgabe, eine, die ihm das Herz noch mehr klopfen lässt und ihm die Hitze in die Wangen treibt. Diese Aufgabe wird ihn wieder in die Wüste führen und an einen Berg, ihn und seine Menschenherde. Und dort wird Gott wieder sprechen, zu Mose und mit einer Nachricht für sie alle. Gott wird ihnen die Gebote geben, an zehn Fingern zu merken und sehr leicht zusammenfassen: Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.

Das ist seit damals eure einzige, große Verantwortung, ihr Menschen. Sie kommt von einem Gott, der Menschen aus der Sklaverei befreit und die Flüchtlinge und die Fremden besonders liebt. Nichts von eurer Verantwortung könnt ihr an andere abgeben. Und wenn die, die euch leiten, in die Irre gehen, dann geht bloß nicht mit ihnen. Folgt in der Wüste den Zeichen von Gefahr und Verheißung, den brennenden Büschen, dem Gott wie Rauch und Feuer, dem Gott eurer Zukunft mit dem Namen: Ich werde sein, der ich sein werde.

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