Wo soll ich fliehen hin / weil ich beschweret bin mit viel und großen Sünden? / Wo soll ich Rettung finden? Wenn alle Welt herkäme / mein Angst sie nicht wegnähme. (Johann Heermann, 1630)
Der Wunsch zu fliehen und keine Möglichkeit dazu. Den Choral „Wo soll ich fliehen hin?“ schrieb Johann Heermann in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Sein Leben spielte sich zum überwiegenden Teil in eben diesen dreißig Jahren ab. Das Ende des Krieges erlebte er nicht mehr.
„Wo soll ich fliehen hin?“ Diese Frage trieb viele Jahre später auch den Dichter Stefan Zweig um. Ihm gehörte seit 1927 die Partitur der Kantate. Bei seiner Flucht aus Nazi-Deutschland ins Exil musste er sie im Safe einer Londoner Bank zurücklassen. „Wo sollen wir fliehen hin?“ Das dachte der Thomaskantor Günter Ramin im Dezember 1943 und nahm die Stimmen zu dieser Kantate mit nach Grimma, wo der Thomanerchor vor den Bombenangriffen auf Leipzig Schutz gesucht hatte. „Wo soll ich fliehen hin?“ Alle Menschen, die Krieg und Not und Flucht erleben, haben diese Frage im Gepäck. Und eine Angstmusik spielt in ihren Herzen, in hastigen, wie ausweglos eilenden Noten und engen Tonräumen.
Der Wunsch zu fliehen und keine Möglichkeit dazu. Vor knapp 400 Jahren sucht Johann Heermann nach einem Trost in seiner ausweglosen Situation. Und er findet ihn. In der Kantate erklingt an dieser Stelle ein dramatischer, verminderter Septakkord. Und dann fängt der Bass an, von Sünde zu singen, vom Sündenwust sogar und von Jesu Blut. Eine Art von Trost, mit der wir heute unsere Schwierigkeiten haben. Sünde, das ist wirklich ein barockes Wort, auch ohne Wust. Wer benutzt es heute noch, außer, wenn es um Kuchen geht oder um Geschwindigkeitsübertretungen? Und wer soll heute noch nachvollziehen können, was jetzt genau die Sünde und das Blut Christi miteinander zu tun haben?
Den Thomassern wäre beinahe zu wünschen, es gäbe auch für Bachkantaten eine Altersfreigabe. Dann, wenn wie hier immerzu von „Sünde“ und „Blut“ und „blutigen Strömen“ gesungen wird. Oder wenigstens einen Warnhinweis „Achtung, Angstmusik!“.
Zum Glück sind die Solistinnen und Solisten alle schon deutlich über 18. Denn das mit der Sünde ist eine erwachsene Erfahrung: Der Wunsch zu fliehen und keine Möglichkeit dazu. Vor allem nicht fliehen zu können vor sich selbst. In der Tradition der christlichen Kirche wird das mit der Sünde meistens auf den einzelnen Menschen bezogen und auf sein Verhältnis zu Gott. In der nächsten Woche erinnern wir uns daran. Dann feiern wir das Reformationsfest und denken an Martin Luther, der auch nicht mehr wusste wohin, mit seiner großen Angst, ein Sünder zu sein und für Gott nicht gut genug. Alle sagen ja immer, das sei so schwer in die Gegenwart zu übersetzen.
Für mich ist das heute wieder eine Frage: „Wo soll ich fliehen hin?“. Gjerade angesichts der Situationen von Krieg und Not und Flucht um mich herum. Eine Sünde das alles. Ein Wust, keiner blickt mehr durch, dramatisch verminderte Septakkorde überall. Und ein Gefühl der Ausweglosigkeit, des Gelähmt-Seins. Ich kann an der Situation dieser Welt gerade genauso wenig ändern, wie Johann Heermann etwas am Verlauf des Dreißigjährigen Krieges, Stefan Zweig am Aufstieg des Nationalsozialismus oder der Thomaskantor Günter Ramin und seine Thomasser an der Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg nach Deutschland zurückkehrte, in das Land, von dem er ausgegangen war. Es gibt durch alle Zeiten hindurch Menschen, die falsche und böse Dinge tun oder sie geschehen lassen. Und am Ende leiden alle unter diesen Sünden. Auch die, die keine Schuld trifft und die dann trotzdem Krieg und Not und Flucht erleben müssen.
„Wo soll ich fliehen hin?“ Johann Heermann hat das mit der Sünde, ganz geprägt von Martin Luther, in seinem Choral vor allem auf sich selbst bezogen. Das ist erstaunlich, weil er persönlich für den Dreißigjährigen Krieg bestimmt nichts konnte. Sein Trost, sein Ausweg aus der Ausweglosigkeit war ein anderer als der, den wir normalerweise gehen. Er suchte nicht irgendwo da draußen nach Verantwortlichen oder Schuldigen, sondern er suchte bei sich selbst danach. Johann Heermann weiß, dass es die Sünde des Menschen ist, sich von Gott abzuwenden und das Falsche und Böse zu tun oder es geschehen zu lassen. Und zieht in Erwägung, dass er selbst auch einen Anteil daran haben könnte.
Von dem, was gegen die Sünde hilft, hat er in Bildern geredet. Deswegen geht es so viel um das Blut Christi. Johann Heermann hat ein Blutbild gemacht, von Jesus. Denn ein Tropfen Blut genügt, um fast alles über einen Menschen herauszufinden. Und ein Tropfen von Jesu Blut genügt, um zu wissen, wer Jesus ist, was für eine Kraft er hat und wie er sich den Menschen zuwendet. Ein Tropfen Blut genügt – oder eine Geschichte: Jesus sieht den Gelähmten und die Freunde, die ihn tragen müssen und ihre ganze ausweglose Situation. Er fragt mit keinem Wort danach, wie das alles gekommen ist. Auch nicht, ob der Gelähmte an seinem Schicksal irgendwie selbst schuld sein könnte, was zu seiner Zeit eine übliche Vorstellung war. Er vergibt ihm zuerst die Sünde, nimmt ihn an, so wie er da vor ihm liegt und gar nichts kann, nimmt ihm damit die Angst, nicht genug zu sein. Und dann geht wieder etwas. Der Gelähmte steht auf und nimmt sein Bett und geht nach Hause.
Die Angstmusik verstummt. Und die Trostmusik setzt ein. Das passiert in der Kantate genau in der Mitte. Da wendet sich alles. In der Tenorarie klingt noch einmal die bekannte Melodie vom Anfang, gespielt nur von der Oboe. Johann Sebastian Bach wusste genau, dass die Menschen zu seiner Zeit den ursprünglichen Text zu dieser Melodie mithören würden. Hört genau hin, wartet einen Augenblick, dann kommt ihr drauf: Auf meinen lieben Gott / trau ich in Angst und Not / Der kann mich allzeit retten / aus Trübsal, Angst und Nöten; / mein Unglück kann er wenden, / steht alls in seinen Händen. „Wo soll ich fliehen hin?“ Was uns gerade lähmt und in ausweglosen Situationen festhält, das wissen wir selbst am besten. Und auch, dass es lange dauern kann, bis sich etwas wieder zum Guten wendet. Weil es eine ernste und erwachsene Sache ist, das mit der Sünde, mit dem Tun und dem Lassen, im eigenen Leben und in der großen Welt. Etwas, wogegen Kuchen und Geschwindigkeitsübertretungen wirklich lächerlich sind. Wir brauchen einen, der uns da herausholt, der sagt: „Steh auf und geh“. Damit man so mutig und unverzagt wird wie der Bass, wenn er dann weitersingt. Noch lieber höre ich allerdings den Sopran. Und ich stelle mir dabei einen Knabensopran vor. Einen kleinen Sexer, der singt: „Ich bin ja nur der kleinste Teil der Welt“. Aber gesehen, geliebt, gut genug. Der kleinste Teil der Welt – meinetwegen seh‘ so aus oder fühl dich so. Aber du hast einen Anteil bekommen an der Kraft und der Liebe Jesu. Wenn du die Welt nicht ändern kannst und die Zeit, in der du dein Leben verbringst, dann aber trotzdem dich selbst. Komm zu mir, Herr des Lebens / dass ich nicht leb vergebens (Gerhard Schöne)
(Anmerkung: „Sexer“ ist im Thomanerchor die Bezeichnung für die jüngsten Chormitglieder)

